Auf einen Blick
- Milena Moser sichtet in San Francisco ein Zürcher Tram
- Sie erinnert sich an eine Tramfahrstunde und hat Respekt für den Beruf Tramführerin
- Zurück in Zürich wurde sie im Tram freundlich behandelt
Die Räder quietschten in den Schienen, wie es sich gehörte. Kris, der Ladenbesitzer, mit dem ich regelmässig Enkelfotos austausche, verstand meine Aufregung nicht, als ich mitten in die Strasse hinausrannte, hektisch mit dem Handy herumfuchtelte und versuchte, diesen für mich so bedeutungsvollen Moment zu dokumentieren. Man muss dazu wissen, dass San Francisco von vielen Partnerstädten alte Tramwagen geschenkt bekommen hat, also alt im Sinn von antik. Ein europäisches Tram ist also keine Seltenheit im Stadtbild, doch ausgerechnet «meines» hatte ich noch nie gesehen.
«Meines» nicht nur, weil Zürich meine andere Heimat ist, meine erste Stadt, sondern auch, weil ich tatsächlich einmal eine Tramfahrstunde absolviert habe. Das muss dreissig Jahre her sein. Ich hatte eine Kurzgeschichte veröffentlicht, in der eine Tramführerin einen ganzen Wagen entführt, nur um einen Mann, der ihr gefällt, an sein Ziel zu bringen. Auch wenn es nicht an ihrer Strecke liegt. Der Wagen entgleist, aber die beiden finden sich.
Die Geschichte wurde in der Personalzeitung der VBZ nachgedruckt, und ich wurde zu dieser Fahrstunde eingeladen. Seither ist mein Respekt vor dieser Tätigkeit ins Unendliche gestiegen. Ich verstehe, warum die Trams nicht auf jede verpennte Schriftstellerin warten können, die mit nassen Haaren und offenen Schuhen verzweifelt winkend auf die Haltestelle zurennt. «Der hat mich doch gesehen!» Ja, «der» hat aber einen Fahrplan einzuhalten. Ich verstand den Stress, den der lange Bremsweg auslöst, das hektische Klingeln. Ich habe bis heute den Fahrradfahrer nicht vergessen, der vor mir aufs Trottoir ausweichen musste und mir den Finger zeigte. Das war definitiv keine Liebesgeschichte!
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Ich konnte das Pony von der Kobra unterscheiden, ich fing an, vorne einzusteigen und «meine Kollegen» lässig mit zwei Fingern am eingebildeten Hutrand zu grüssen, bis mein damals fünfjähriger Sohn mir sehr bestimmt erklärte, das sei oberpeinlich. Aber peinlich ist in San Francisco kein Kriterium, und so winkte ich dem vorbeifahrenden Symbol meines Doppellebens begeistert zu, und mindestens drei Menschen winkten zurück.
Eine Woche später sass ich dann in meiner alten, neuen, ersten, zweiten Heimatstadt Zürich in einem Tram, und wenn ich sage, «ich sass», dann ist das, weil mir mindestens drei Menschen unabhängig voneinander einen Platz angeboten hatten. An einem dieser trüben, grauen Tage, die allen die Laune verderben, mitten im grössten Gedränge nach Arbeitsschluss, überboten sich die Passagiere geradezu in Höflichkeit. Ich war keineswegs die Einzige, die so zuvorkommend behandelt wurde. Allen, die nicht mehr jung oder mit kleinen Kindern oder Einkäufen beladen waren oder mit Krücken kämpften, wurde rücksichtsvoll Platz gemacht. Ich hörte die förmliche Aufforderung «Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten?» sowie das keinen Widerstand duldende «Du sitzen!».
Menschen ändern sich, Städte ändern sich. Auch die, die man am besten zu kennen meint. Das akzeptiere ich, in erster Linie, weil mir gar nichts anderes übrig bleibt. Trotzdem war ich fast schon erleichtert, als ein junges Mädchen einer älteren Dame den gerade freigegebenen Sitz wegschnappte und zu ihrer peinlich berührten Freundin sagte: «Sälber tschuld, wenn sie so lamaschig ist!» Da war es wieder, «mein» Zürich ...