Die Schriftstellerin über Schuldgefühle
Das Treibhaus des schlechten Gewissens

Ich beisse mir auf die Zunge, ich schlucke die Worte hinunter, ich versuche ganz bewusst, das ständige Entschuldigen, Erklären und Rechtfertigen zu vermeiden, das mir viel zu leicht von den Lippen kommt. Aber das schlechte Gewissen ist offenbar tief in mir verwurzelt.
Publiziert: 18.08.2024 um 15:16 Uhr
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Am Flughafen in San Francisco kämpft Milena Moser mit Schuldgefühlen.
Foto: Shutterstock
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Milena MoserSchriftstellerin

Wieder einmal schreibe ich eine Kolumne vom Abfluggate am Flughafen, wieder einmal habe ich Tränen in den Augen, während ich gleichzeitig vor Vorfreude kribble.

«Das ist jetzt aber schnell gegangen», spricht mich eine etwas jüngere Frau an. Ich weiss erst gar nicht, was sie meint – den Gang durch die Passkontrolle? Sie schaut sich suchend um. «Wo ist denn Ihr Mann?», fragt sie. «Ich würde ihn gerne kennenlernen.» Da verstehe ich, dass sie auf meine Kolumne vor ein paar Wochen anspricht, in der ich von unseren gemeinsamen Reiseträumen erzählte.

«Oh nein, Victor ist nicht hier!» Sie schaut mich fragend an, und sofort meine ich, in ihrem Gesicht lesen zu können: «Wie, Sie fliegen allein in die Schweiz? Wo er sich das so sehnlichst wünscht? Und er ist doch krank, wie können Sie ihn da einfach allein lassen?»

Ich hole tief Luft und setze zu einer ausholenden Erklärung an – doch im letzten Moment gelingt es mir, sie hinunterzuschlucken und stattdessen einfach unverbindlich zu lächeln. Die Frau wirft mir ja gar nichts dergleichen vor, im Gegenteil, sie schaut mich freundlich an und sagt: «Vielleicht nächstes Mal!» Und dann geht sie. Ich schaue ihr nach und frage mich, was bloss mit mir los ist.

Das schlechte Gewissen war das Kreuz, das ich mein halbes Erwachsenenleben lang mit mir herumschleppte. Es war so offensichtlich und so lächerlich, dass eine Freundin einmal einen Song für mich komponiert hat. Mit dem Titel «Milenas Hobby: Sie fühlt sich schuldig».

Ich weiss nicht, in welchem Treibhaus meine Schuldgefühle wachsen und warum ihre Wurzeln so tief in meiner Seele festsitzen. Was ich aber weiss, ist, dass sie nie etwas besser oder leichter gemacht, nie jemandem geholfen haben. Ich habe Jahre damit verbracht, sie auszurupfen, sie anzuschauen, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich meinte, ich hätte sie längst ausgerottet. Und doch scheinen sie nachzuwachsen wie Unkraut.

Damit bin ich natürlich nicht allein. Verallgemeinerungen versuche ich zu vermeiden, doch es scheint, dass Frauen, vor allem Mütter, mehr mit der giftigen Pflanze Schuldgefühl hadern als Männer oder Väter. In den letzten Wochen habe ich vermehrt solche ausführlichen Rechtfertigungsversuche gehört, wie ich gerade einen heruntergeschluckt habe.

Von Müttern, die allein verreisen. Von Frauen, die Angehörige pflegen und ein Konzert im Park besuchen. Von Frauen, die müde sind, Frauen, die eine Pause brauchen, Frauen, die Spass haben wollen. Und irgendwo in den Tiefen ihres Selbst nicht glauben, dass ihnen das auch zusteht.

Manchmal, und das ist fast das Schlimmste daran, manchmal erzählten mir diese Frauen, dass diese Rechtfertigungen tatsächlich von einer vorwurfsvollen Frage ausgelöst worden waren: «Ja, und wo ist deine Tochter, deine Mutter, dein Mann?» Und dass es immer Frauen waren, die diese Fragen stellten.

Das macht mich nicht nur traurig, das macht mich müde. Genauso müde wie mein eigener Impuls, mich zu rechtfertigen. Ich dachte, das hätte ich hinter mir. Aber vielleicht reicht es nicht, die Pflanzen auszurupfen. Vielleicht muss ich das ganze Treibhaus abreissen.

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