Milena Moser über die Lotterie des Lebens
Warum Hoffnung stärker ist als Angst

Angst ist eine angemessene Reaktion auf die Weltlage, aber nicht die einzige Möglichkeit. Victor, ein Mann mit schwerer Vergangenheit, zeigt, dass Glück und Hoffnung die radikalste Form des Widerstands sein können.
Publiziert: 02.03.2025 um 17:16 Uhr
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Victor und Milena halten zusammen – gegen die Angst und für die Hoffnung.
Foto: Instagram

Auf einen Blick

  • Victor sieht Angst als Form des Aufgebens und wählt Glück als Widerstand
  • Trotz schwerer Erfahrungen bleibt Victor optimistisch und kreativ
  • Victor spielt Lotto und erträumt sich eine Villa
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Milena MoserSchriftstellerin

«Angst essen Seele auf» – warum mir dieser Filmtitel aus meiner Jugend jetzt wieder in den Sinn kommt, muss ich wohl angesichts der Weltlage nicht erklären. Angst ist eine angemessene Reaktion – aber nicht die einzig mögliche.

Victor hat einen Lottoschein gekauft. Das tut er immer wieder mal, und bisher immer ohne Erfolg. Aber irgendjemand muss ja gewinnen, sagt er. «Warum nicht ich?»

«Warum nicht ich?» ist auch seine Haltung in unangenehmeren Situationen. Wenn seine diversen Krankheiten über ihm zusammenschlagen oder eine neue hinzukommt. Dann verzweifle ich schon mal: «Warum immer wieder er?», frage ich. «Warum muss ein Mensch so viel aushalten, so viel ertragen?» Und heimlich denke ich schon mal: «Warum kann es nicht mal jemand anderen treffen?» Jemanden, den ich nicht so sehr liebe, zum Beispiel.

Victor sieht das nicht so. Die Frage «Warum ich?» stellt er sich nicht. Stattdessen sagt er: «Warum nicht ich?» Das wird ihm immer wieder auch vorgeworfen. Er sei zu wenig wütend, zu wenig bitter, um als Aktivist ernst genommen zu werden. Immerhin hat er als junger Mann Verfolgung, Enteignung, Haft und Folter erlebt und später, in der scheinbaren Sicherheit seiner neuen Heimat, Diskriminierung, Rassismus. Plus, wie gesagt, die ganzen nicht enden wollenden gesundheitlichen Rückschläge. Genug für mehrere Leben. Genug, um aufzugeben.

Oder eben nicht. «Wenn ich bitter und mutlos werde, haben sie gewonnen», sagt Victor. «Wenn ich Angst habe, haben sie gewonnen.»

«Sie» sind die Militärpolizisten, die ihn folterten, die Krankenversicherer, die ihm Eingriffe verweigerten, die Verkäuferin, die fand, jemand wie er könne Schuhe aus Leder nicht zu schätzen wissen. «Sie» sind auch die Umstände, die Zustände. Auch jetzt, wo die politische Situation gezwungenermassen Erinnerungen an vergangene Bedrohungen wachruft, meint er, Angst sei nicht die Antwort. Angst sei eine Form des Aufgebens. Die radikalste Form des Widerstands, sagt Victor, ist glücklich zu sein.

Er erinnert mich an die Sozialarbeiterin, die vor Jahren von ihm verlangte, er müsse sofort aufhören zu malen und stattdessen seine Papiere in Ordnung bringen. «Verstehen Sie doch, Sie werden bald sterben!»

«Ja, aber bis es so weit ist, male ich noch ein bisschen ...» Das bringt Victors Lebensphilosophie ziemlich genau auf den Punkt. Mir fällt das nicht so leicht, obwohl ich viel weniger Widerstände zu überwinden habe als er. Oder gerade deswegen? Sagte nicht Nietzsche, das Glück liege im Überwinden von Widerständen? Ich versuche es: «Warum nicht?», wiederhole ich. «Warum sollen wir nicht im Lotto gewinnen?»

Schliesslich sind in den letzten Wochen so viele schreckliche, unvorstellbare, den Rahmen der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes sprengende Dinge passiert. Warum also nicht auch einmal etwas ebenso Unvorstellbares, Unrealistisches, aber Schönes?

Statt der neuesten schlechten Nachrichten schauen wir uns deshalb nach Möglichkeiten um, unseren imaginären Lottogewinn zu verscherbeln. Wir träumen uns auf Berge und unter Palmen und zu weit entfernt lebenden Liebsten. Wir träumen uns in Sicherheit und Sorglosigkeit. Victor schaut nach, ob die Villa von Malcolm Lowry in Cuernavaca zufällig grad zu kaufen wäre. Da hat er vor vielen Jahren einmal einen schwimmenden Altar im Pool installiert. «Wir könnten da leben und Künstler aus aller Welt einladen, mit uns zusammenzuarbeiten ...»

Die Villa steht nicht zum Verkauf. Es ist nicht einmal klar, ob sie überhaupt noch steht. Die Lottozahlen werden gezogen, wir haben drei Richtige und zehn Dollar gewonnen. Aber die Angst hat sich verzogen. Die Freude war stärker.

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