Der Schriftsteller Armistead Maupin hat den Begriff der logischen Familie, im Unterschied zur biologischen, geprägt. Wie viele seiner Generation war er aufgrund seiner sexuellen Orientierung von den konservativen Eltern verstossen worden und hatte in San Francisco eine neue Heimat gefunden. Mehr als das: eine Familie. Die Stadt umarmte ihn, wie seine Mutter das nicht mehr konnte. Hier konnte er zu dem werden, der er war.
San Francisco hat vielen Menschen aus aller Welt dieses Gefühl vermittelt, auch mir. Und auch ich hatte immer wieder und manchmal auch fälschlicherweise das Gefühl, eine alternative, eine selbstgewählte Familie, ein neues Zuhause gefunden zu haben. In Jugendgruppen und WGs, in Beziehungen, in Büchern und Buchhandlungen, in der Redaktion meiner ersten selbstgegründeten Zeitschrift.
Victor schwärmt von der Zeit, in der er als Schauspieler und Musiker in verschiedenen Formationen unterwegs war. Er erzählt, dass Freunde ihm ihren halbwüchsigen Sohn anvertrauten, der die Schule geschmissen und allen möglichen Blödsinn angestellt hatte. Zwei Jahre lang tourte der Junge mit ihnen durch die Region, ein blasser Rothaariger in einer Truppe indigener Künstler. Doch das war kein Thema. Er gehörte zur Familie. Nicht äusserlich, aber innen. Wo es zählt.
Und jetzt sitzen wir, wie so oft am Sonntag, am Tisch unserer Freundin und stossen an. «Auf uns», sage ich, wie es meine Mutter auch immer getan hat. Wir reden darüber, was uns verbindet und was uns trennt und warum wir unsere gemeinsamen Essen als Familienessen deklarieren, obwohl wir im strengen Sinn keine sind. Angefangen hat das während der Pandemie, als wir zu einer Bubble zusammenschrumpften, uns monatelang nur zwischen unseren respektiven Küchen und Esstischen bewegten. Doch es ist mehr als das. Nur, was?
Wo verläuft die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe, Liebe und Familie? Und was meinen wir überhaupt mit Familie?
«Bedingungslose Liebe», sage ich.
«Man muss nichts darstellen, man muss sich gegenseitig nichts vormachen, nein, man kann sich nichts vormachen.»
«Wenn man sich lange genug kennt, um mehrere Versionen voneinander miterlebt zu haben. Also, du und ich, wir kennen uns als junge Mütter, als verheiratete Frauen, als geschiedene Frauen, in erfolgreichen und weniger erfolgreichen, in stabilen und chaotischen Phasen.»
«Dass ich dich morgens um drei vom Polizeiposten aus anrufen könnte und du würdest mich abholen.»
«Das stimmt nicht ganz. Morgens um drei schlafen wir alle tief und fest – aber es geht ums Prinzip.»
«Dass man sich manchmal auch tödlich auf die Nerven gehen kann, ohne dass es etwas ändert.»
«Sag ich doch: bedingungslose Liebe.» (Ich, die unverbesserliche Romantikerin, auch wenn es nicht um romantische Beziehungen geht.)
Wir lachen, denn wir haben keine Ahnung. Wir sind nicht mit diesen Dingen aufgewachsen und idealisieren sie deshalb umso mehr. Wir wissen schon, dass das ein bisschen viel verlangt ist, sowohl von den logischen wie von den biologischen Familien. Dass niemand diesen Idealen gerecht werden kann, schon gar nicht wir selbst. Und doch fühlen wir uns an diesem Sonntagabend so sicher und geborgen wie ein Baby im Tragetuch. Und finden nun mal kein anderes Wort dafür als: Familie.