Kathy ruft an. «Du weisst ja, morgen kommt der nächste Sturm», sagt sie, und ich seufze. Der anhaltende Regen, die Kälte, die alles durchdringende Feuchtigkeit schlagen mir langsam aufs Gemüt. Dabei kann ich mich wirklich nicht beklagen: Bis jetzt mussten wir keinen einzigen Tag auf Strom verzichten, ich habe weder Arbeit verloren, noch wurde eine Reise abgesagt, und mein Arbeitsweg hat sich auch nicht, wie der einer Freundin, um eine Stunde verlängert, weil der halbe Highway weggeschwemmt wurde.
Doch dafür hat Kathy nicht die geringste Geduld, und mit gutem Recht. Sie ruft nicht an, um zu plaudern, und schon gar nicht, um mich jammern zu hören. Kathy will mein Geld. Und ausserdem Lebensmittel, Kleider, Möbel und Spielsachen. Sie sammelt für die Landarbeiter aus der Gegend um Watsonville. Dort, zwischen den teuersten Touristenorten der Küste, liegen auch endlose Erdbeer- und Gemüsefelder, die das halbe Land beliefern. Aber der Regen hat einen grossen Teil der Ernte zerstört.
Vor zwei Wochen trat dort auch der Pajaro-Fluss über die schlecht befestigten Ufer, sprengte den uralten Damm und setzte Felder, Strassen und Wohngegenden unter Wasser. Gut zweitausend Menschen haben auf einen Schlag Arbeit, Unterkunft und überhaupt alles, was sie besassen, verloren. Die Zahl der Hilfesuchenden hat sich auf einen Schlag verzehnfacht, die Notunterkünfte und Suppenküchen sind überfordert. Die Feldarbeiter leben oft in behelfsmässigen Unterkünften, die den Grossbauern gehören. Diese verrechnen weiterhin Miete, auch wenn es gar keine Arbeit gibt. Die so angehäuften Schulden werden dann später direkt vom kärglichen Lohn abgezogen.
«Moderne Sklaverei», sagt Kathy. «Schlicht und einfach.» Doch auch die ein wenig besser Gestellten, die in den umliegenden Restaurants und Hotels arbeiten, sind über Nacht obdachlos geworden. Weil sie auf den überschwemmten Strassen nicht zu Arbeit fahren konnten, wurden viele von ihnen fristlos entlassen. Und ausgerechnet jetzt, wo viele hofften, endlich in ihre Wohnungen zurückkehren, den entstandenen Schaden begutachten und aufräumen zu können, jetzt droht schon die nächste Überschwemmung.
«Erinnerst du dich an Half Moon Bay?», fragt Kathy. Anfang des Jahres hat dort ein älterer Feldarbeiter sechs Mitarbeiter und einen Vorgesetzten erschossen. Wenige Tage zuvor waren ihm die Kosten für eine beschädigte Maschine von seinem ohnehin schon lachhaften Lohn abgezogen worden. Es gibt keine Entschuldigung für einen Massenmord, nie. Aber für die Bedingungen, unter denen Täter und Opfer lebten, auch nicht. Der Gouverneur von Kalifornien zeigte sich nach einem Besuch sichtlich erschüttert. Das sei nicht menschenwürdig, sagte er damals in die Fernsehkameras. Da müsse was getan werden.
«Unter welchem Felsen lebt der denn», war damals Kathys zynischer Kommentar. Das Elend der kalifornischen Landarbeiter ist spätestens seit Steinbecks «Früchte des Zorns» auch der weissen Bevölkerung bekannt, wenn auch vielleicht nur aus dem Mittelschul-Englischunterricht. Selbst ich habe davon gewusst, als ich noch in der Schweiz lebte. Aber hätte es mich so bewegt, wenn ich nicht Kathy und ihre Gruppe kennengelernt hätte? Ich lehne meine Stirn an die Fensterscheibe. Der Regen prasselt dagegen, er scheint nicht nachzulassen.