Mit hängenden Armen standen wir da, im strömenden Regen, vor unserer Haustür, und schauten den Sanitätern zu, die eine Bahre in die Ambulanz schoben. Die Frau, die bewusstlos auf der Bahre lag, kannten wir nicht. Aber das machte es nicht besser.
Es war ein grauer, kalter Tag gewesen, zwischen zwei Stürmen. Der anhaltende Regen begann, uns aufs Gemüt zu schlagen. Ich hatte Spaghetti gekocht, mein Trostessen par excellence, und nach einem Teller oder zwei fühlte ich mich tatsächlich schon wieder besser. Doch dann wollte Victor die Nachrichten schauen, und ich jaulte auf: «Nein!» Wie ein Kind hielt ich mir die Hände über die Ohren. Wir reagieren grundverschieden: Victor fühlt sich dem Weltgeschehen weniger ausgeliefert, wenn er auf dem Laufenden ist. Er schaut sich Nachrichten aus diversen Ländern an und zwischendurch studiert er die Geschichte der Krisengebiete, die ihn besonders beschäftigen, um die aktuelle Lage besser zu verstehen. Ich hingegen neige eher zur Vogel-Strauss-Methode. Manchmal wird es mir einfach zu viel. Das geballte Leiden der Welt bricht über mir zusammen wie eine Maverickswelle über einem Surfer, es zwingt mich in die Knie, es raubt mir den Atem, es drückt mich auf den Boden. Und so schauten wir uns an diesem Abend statt der Nachrichten eine uralte Wiederholung einer Krimiserie an, in der garantiert keine der aktuellen Krisen und Probleme angesprochen wurden. Victor schenkte mir ein Glas Rotwein ein. Ich entspannte mich.
Es dauerte eine ganze Weile, bis wir merkten, dass die Sirenen nicht aus dem Fernseher heulten, sondern von der Strasse hinauf. Wir schauten aus dem Fenster. Eine Ambulanz und ein Feuerwehrwagen standen vor unserem Haus. Unterdessen hatte es wieder zu regnen begonnen, und die Blinklichter schienen durch die nassen Scheiben seltsam verzerrt. Wir liefen die Treppe hinunter und öffneten die Tür, gerade als die Sanitäter eine Bahre in die Ambulanz schoben. Und da stand Krissy, eine Nachbarin, die jeden Abend ihren Hund unsere Strasse entlang spazieren führt. Sie war sichtlich erschüttert, der Schirm in ihrer Hand zitterte über ihrem Kopf wie eine regenbogengestreifte Qualle. «Direkt hier», sagte sie immer wieder und zeigte auf das nasse Stück Trottoir vor unseren Füssen. «Direkt vor eurer Tür!» Eine ältere Frau war offenbar vor unserer Haustür zusammengebrochen. Krissy wusste nicht, wie lange sie schon da im Dunkeln, im strömenden Regen gelegen hatte, als sie sie entdeckte. Bei diesem Wetter war kaum jemand zu Fuss unterwegs. Das schiere Ausmass der Obdachlosenkrise in dieser Stadt hat ausserdem viele Bewohner abgestumpft. Sie sind es gewohnt, an reglosen Gestalten vorbeizugehen. Über sie hinwegzusteigen. Einer der Sanitäter winkte uns zu und hielt den Daumen hoch. Die Frau lebte immerhin noch, interpretierten wir seine Geste.
«Willst du reinkommen», fragte ich. «Dich aufwärmen?» Krissy schüttelte den Kopf. «Ich bin zu aufgewühlt.» Ich nickte. Ich wusste, was sie meinte. Die Vorstellung, dass diese Frau unter Umständen die ganze Nacht auf der Strasse gelegen hätte, im Regen, in der Kälte, in der Dunkelheit, dass sie vielleicht gestorben wäre, während wir gemütlich an der Wärme sassen, war zu viel. Dass ich gegen die Leiden und den Zustand der Welt wenig ausrichten konnte, war eines. Dass aber diese Machtlosigkeit bis vor meine Tür reichte, das wollte ich nicht akzeptieren. Als wir die Treppe heraufkamen, lief im Wohnzimmer immer noch der Fernseher. Ich schaltete ihn aus und holte mir meinen Regenmantel. Bis mir etwas Besseres einfiel, würde ich wenigstens vor dem Schlafengehen einen kurzen Rundgang durch mein Quartier machen. Auch wenn das vermutlich nur mir selbst helfen würde.