Jenny schaut mich durch ihre leicht verschmierten Brillengläser an. Ihr Blick ist mitleidig, aber auch resigniert. «Ach, es könnte doch auch schlimmer sein», sagt sie. Victor hat nun schon die zweite Nacht in der Notaufnahme verbracht. 40 Stunden, nachdem er offiziell ins Krankenhaus eingewiesen wurde, wartet er immer noch auf ein Bett. Da ist er nicht der Einzige, das hat mir Jenny schon einmal erklärt. Daher die leichte Resignation in ihrem Blick.
Die Notaufnahme dient in Amerika als eine Art Auffangstation, erfüllt nicht nur medizinische, sondern auch sozialfürsorgerische und psychiatrische Funktionen. Weil hier von Gesetz wegen jeder Mensch behandelt werden muss. Auch die schlecht oder gar nicht Versicherten. Die Notaufnahme ist die letzte Bastion der Menschlichkeit innerhalb eines zunehmend unmenschlichen Systems – und damit heillos überfordert. Seit der Pandemie herrscht zusätzlich massiver Personalmangel. Auch Jenny steht kurz davor, den Bettel hinzuschmeissen. Dabei liebt sie ihren Beruf, den sie seit zwanzig Jahren ausübt. Aber die Pandemie hat auch bei ihr Spuren hinterlassen. Nicht nur die Lohnkürzungen und administrativen Mehrauflagen machen ihr zu schaffen, sie findet, ihr Beruf werde grundsätzlich nicht mehr respektiert. «Weisst du noch, wie die Leute damals für uns geklatscht haben? Das hat uns zwar nicht viel gebracht. Aber es war schön. Doch dann kippte es, und irgendwann liessen sie ihre Frustration an uns aus. Als hätten wir die Krise verursacht.»
Sie kontrolliert Victors Infusion. Ich bin ihr im Weg, neben dem Bett ist kaum Platz für den wackeligen Plastikstuhl, auf dem ich sitze. In der Notaufnahme ist es kalt, ich habe eine Decke mitgebracht und über dem Bett ausgebreitet. Geräte piepsen, Generatoren rattern, immer geht irgendwo ein Alarm los. Patienten weinen, schreien, manche randalieren. Auf dem Gang stauen sich Patienten auf schmalen Schragen, mit dünnen Tüchern zugedeckt, manche haben nicht mal ein Bett, sondern sitzen zusammengesunken auf Stühlen. Die Notaufnahme ist für 33 Patienten eingerichtet, im Moment sind über hundert da. 36 davon warten, wie Victor, auf ein Bett. Jenny zieht den halblangen Vorhang zwischen Victor und seiner Bettnachbarin zu.
«Es könnte schlimmer sein», wiederholt Jenny. «Er könnte da draussen liegen.»
Am nächsten Tag wird endlich ein Bett auf der Abteilung frei. Wohlgemerkt, kein Zimmer, ein Bett. Es steht im Gang, zwischen einem Materialschrank und einer Computerstation. Da sich die Toiletten in den einzelnen Zimmern befinden, muss Victor mit seinem Infusionsständer den Aufenthaltsraum der Angestellten am anderen Ende des Flurs aufsuchten. Nicht ideal, dafür wäre im Falle eines Falles immer jemand in der Nähe. Und der Besucherstuhl hat eine gepolsterte Sitzfläche. Auch hier tun die Pflegenden, was sie können, aber die Frustration ist ihnen anzumerken. Mo, die die Nachtschicht übernimmt, sagt trocken: «Willkommen auf der MS Parnassus! Sie haben offenbar die Luxuskabine gebucht ...» Wir müssen lachen, MS Parnassus ist auch nicht schlecht. Später, als Victor schläft, sieht sie mich weinen. Es ist mir peinlich, aber sie sagt nichts, und ich hoffe schon, sie hätte es nicht bemerkt. Doch etwas später stellt sie einen Becher Schokoladepudding vor mich hin. «Hilft immer», sagt sie nur und ist verschwunden, bevor ich mich bedanken kann.