Blindschleichen sind nicht blind. Wasserflöhe gehören nicht zu den Flöhen. Kellerasseln sind eigentlich Krebse. Tinten- und Walfische sind keine Fische, sondern Kopffüsser und Säugetiere. Spitzmäuse sind keine Mäuse, sondern gehören zu den Insektenfressern. Und Flusspferde, das wissen wir alle, haben mit Pferden nichts zu tun.
Etliche Tiernamen sind irreführend, einige basieren auf Vorurteilen, die längst aus der Welt geräumt sind. Zum Beispiel hat der Lämmergeier (heute Bartgeier) nie Lämmer gerissen, sondern ernährt sich von Aas und Knochen.
Noch immer mit seinem alten Namen angesprochen wird der Ziegenmelker. Die Bezeichnung erhielt er aufgrund des Irrglaubens, er sauge den Ziegen Milch aus den Zitzen, worauf diese erblindeten. In Wahrheit suchte er auf den Weiden in der Nähe von Vieh nach grossen Insekten. Verfolgt wurde er deswegen aber nie – Holzwirtschaft und intensive Landwirtschaft haben ihr Übriges getan. In der Schweiz und ganz Mitteleuropa ist der eigentümliche Vogel selten geworden. Lediglich 40 bis 50 Paare brüten hierzulande noch, im Wallis und im Tessin in lichten, trockenen Wäldern.
Nachts schwärmt der seltene Vogel aus
Ziegenmelker werden neuerdings auch Nachtschwalbe genannt. Der neue Name passt besser: Sie sind nachtaktiv und verbringen den Tag am Boden kauernd, wo sie aufgrund ihrer eindrücklichen Tarnung leicht übersehen werden.
Die Vogelwarte Sempach hat sich nun des «Geistes» der Vogelwelt angenommen, der aufgrund seiner Färbung und seiner Seltenheit ein verborgenes Leben führt. Die Resultate einer Studie zeigen, dass wir uns im Ziegenmelker einmal mehr getäuscht haben. Der Waldvogel verlässt nachts nämlich den Wald und nutzt viel stärker das offene Landwirtschaftsgebiet zur Nahrungssuche, als bisher bekannt war.
Die 40 mit GPS-Sendern ausgestatteten Vögel steuerten vor allem Rebberge an, die nicht gespritzt wurden, und Wiesen, die nicht zu stark gedüngt werden. In diesen naturnahen Lebensräumen finden sie grosse Fluginsekten wie Nachtfalter und Käfer.
Aber das Problem ist bekannt: Sanft genutztes Kulturland ist rar geworden. Und auch hier müssen wir uns vor dem Irrglauben hüten: Was nach grünen, saftigen Wiesen aussieht, sind faktisch mit Gülle überdüngte, öde Wüsten, die nur noch wenigen Tier- und Pflanzenarten Heimat und Nahrung bieten.
Simon Jäggi (41) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.