Kolumne «Wild im Herzen» über Seepocken
Einmal pro Jahr das Geschlecht wechseln

Seepocken. Das ist keine seltene Krankheit, es sind Tiere – sehr spezielle. Ihr Sexleben ist so wild, dass es sogar die Frau des grossen Charles Darwin irritierte.
Publiziert: 09.04.2021 um 09:13 Uhr
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Aktualisiert: 22.04.2021 um 16:06 Uhr
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Simon Jäggi, Mitarbeiter Naturhistorisches Museum Bern.
Simon Jäggi

Wer Seepocken am Meeresstrand auf einem Felsen entdeckt, denkt wahrscheinlich drei Dinge:
1. Ist das überhaupt ein Tier?
2. Wenn ja, ist es eine Muschel?
3. Langweilig.

Um die Ehre der Seepocken hochzuhalten, muss man dem entgegnen:
1. Ja, es ist ein Tier.
2. Bei der Gruppe der Seepocken handelt es sich nicht um Muscheln, sondern um festgewachsene Krebse.
3. Nein. Sie sind aufregender, als sie scheinen.

Sie kleben sich mit einem Superleim an Felsen fest, weisen die unvergleichliche Fähigkeit auf, zwischen Geschlechtern zu wechseln, sie haben ein aussergewöhnliches Sexleben, ihre Penisse gehören zu den grössten im Tierreich. Und einer der berühmtesten Wissenschaftler der Welt, Charles Darwin, hat ihnen acht Jahre seines Lebens gewidmet. Seepocken sind also fast alles – ausser langweilig.

Zu den Seepocken gehören zirka 450 Arten. Die meisten davon leben an Meeresküsten, wo sie in einem harten Schalenpanzer hausen, aus dem sie die befiederten Beine herausstrecken, um damit Plankton oder organische Reste auszufiltern. Da sie stationär sind, sitzen sie am Trockenen, wenn die Ebbe kommt – der Moment, in dem man sie in Ruhe betrachten kann. Seepocken kommen aber auch in der Tiefsee und sogar an Walfischen vor. Ein Problem stellen sie in der Schifffahrt dar, wo sie oft in kurzer Zeit die Rümpfe von Schiffen bevölkern und damit den Wasserwiderstand erhöhen.

Wenn der Riesenpenis schrumpft …

Aufregend ist aber vor allem das Geschlechts- und Sexleben der Seepocken. Die meisten Arten wechseln ihr Geschlecht im Lauf des Lebens: In der ersten Paarungszeit ist das Tier zuerst ein Männchen. Es entwickelt einen Penis, der das Achtfache der Körperlänge erreichen kann. Mit dem erstaunlich beweglichen Geschlechtsteil dringen Männchen in die Panzer der Weibchen ein und deponieren ihr Sperma. Ist der Vorrat aufgebraucht, schrumpft der Penis zusammen – und das Tier entwickelt sich zum Weibchen. Jährlich wiederholt sich das Prozedere.

Kein Wunder, widmete sich Charles Darwin der Tiergruppe wähend acht Jahren seines Forscherlebens. Seine fromme Frau Emma soll sich gegen die Veröffentlichung seiner Erkenntnisse gewehrt haben – das wilde Sexleben der festgewachsenen Krebse war ihr nicht geheuer.

Simon Jäggi (41) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern, wo er die Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur», die heute eröffnet wird, mitkuratiert hat. Auch Seepocken kommen darin vor. Jäggi schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

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