Es gibt Tiere, die aus Fabeln zu stammen scheinen, nicht aus der Naturgeschichte. Zum Beispiel der Sizilianische Zwergelefant. Seine Schulterhöhe betrug nur 90 Zentimeter. Als sich der Meeresspiegel senkte, gelangten europäische Waldelefanten auf verschiedene Mittelmeerinseln, wo die Tiere abgeschnitten und allmählich kleiner wurden. Das Phänomen nennt sich Verzwergung. Auf Inseln kann auch das Gegenteil geschehen: der Inselgigantismus. So passiert bei einer riesigen Igelart, die ebenfalls auf einer italienischen Insel zu Hause war – der Igel mass 60 Zentimeter und wog 10 Kilogramm.
Man stelle sich die Herbstferien am Mittelmeer vor, wenn diese Fabelwesen nicht ausgestorben wären. Dort ein kleiner Elefant, hier ein riesiger Igel – und dazwischen ein Erdferkel. Auch Vorfahren dieses eigentümlichen Tieres lebten einst in Europa, noch bevor es überhaupt Menschen gab. Davon zeugen Überreste, die im französischen Perpignan gefunden wurden.
Held der Unterwelt
Das Erdferkel gehört zu den kurligsten Tieren der Welt. Es erinnert an ein Schwein, trägt Kaninchenohren und besitzt eine Zunge, mit der Ameisenbären ausgestattet sind. Es ist Stammgast auf Listen, die Titel tragen wie «Die 24 hässlichsten Tiere der Welt» oder «Verlierer der Evolution». Das ist freilich Ansichtssache. Und das Erdferkel hat einen Haufen innerer Werte.
Heute kommt das Erdferkel nur noch in Afrika südlich der Sahara vor. Für die Wissenschaft stellt es eine harte Nuss dar, da es nachtaktiv ist und einen grossen Teil seines Lebens in unterirdischen Gängen verbringt. In den selbst gegrabenen Höhlen sind sie geschützt vor Fressfeinden. Viele andere Tierarten profitieren von verlassenen Erdferkel-Heimen.
Zuerst kommt das Fressen, dann der Sozialkontakt
Über das Sozialleben der Tiere wissen wir wenig. Wahrscheinlich ist es schwach ausgeprägt. Der Grund: Das Erdferkel ist ein Workaholic. Es frisst täglich bis zu 50'000 Ameisen und Termiten, ist also dauernd damit beschäftigt, seinen Energiebedarf zu decken. Begegnungen zwischen Erdferkeln dauern in der Regel nur gegen zehn Minuten, danach ziehen beide Tiere weiter, um unablässig ihre dreissig Zentimeter lange Zunge in Termiten- und Ameisennester zu stecken.
Simon Jäggi (40) ist Sänger der Rockband Kummerbuben und arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK.