Kolumne «So ein Ding!» von Lisa Feldmann über das neue Hören
Etwas auf die Ohren

Alle mal herhören! Dank Podcasts oder vorgelesener Bücher hat das gesprochene Wort einen neuen Stellenwert erhalten. Ohne Ohrstöpsel läuft fast nichts mehr – auf dem Fitnessgerät schon gar nicht.
Publiziert: 10.07.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.07.2021 um 19:47 Uhr
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Lisa Feldmann ist Autorin und war u. a. Chefredaktorin der «Annabelle».
Foto: zVg
Lisa Feldmann

Ich gehöre zur Generation Walkman. Damals, in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts, eröffnete uns eine japanische Firma die Möglichkeit, unseren Alltag mit einem Soundtrack zu unterlegen. Auf einmal wurde aus einem Stadtbummel, einer Zugfahrt so etwas wie ein Roadmovie.

Ich erinnere mich an meine ersten Monate in einer neuen Stadt, noch ohne Freunde, wie ich ziellos U-Bahn fuhr und mir vornahm, erst auszusteigen, nachdem eine Frau mit roten Haaren oder ein Mann mit Trenchcoat auftauchte; dann stieg ich aus, egal wo, und erkundete das Quartier, das zur Station gehörte. Dazu sang Madonna «La Isla Bonita».

Als ich im darauffolgenden Winter mit meinen nun neuen Freunden nach Zermatt in die Ferien fuhr, entdeckten wir das Skifahren mit unseren Walkmen. Wenn ich heute über illegale Partys inmitten der Corona-Epidemie den Kopf schüttle, muss ich mich nur kurz daran erinnern, wie wir zu den Beats der Pet Shop Boys die Hänge hinuntersausten. Es ist ein Wunder, dass wir unsere Jugend meist überleben, ohne allzu grossen Schaden anzurichten.

Neuauflage der Radio Days

Immer noch trage ich täglich gut zwei Stunden Ohrstöpsel, allerdings läuft inzwischen ein anderes Programm. Morgens höre ich Nachrichten-Podcasts, beim Spaziergang am Nachmittag oder auf Autofahrten oft Interviews oder Dokumentationen. Meine Meinung zum Gendern oder zum Culture-Canceln bilde ich mir beim Zuhören der klugen Gespräche zwischen Michelle und Barack Obama oder beim Frage-Antwort-Format der amerikanischen Stand-up-Comedian Sarah Silverman. Und wenn ich wie jetzt irgendwo im Süden auf einer schattigen Liege dahindöse, liest mir meine Lieblingsautorin aus ihren Büchern vor.

Immer mehr und immer intensiver vertraue ich auf das gesprochene Wort anstelle der Bilderflut und den dazugehörenden Texten, denen ich so viele Jahre gefolgt bin. Und wenn ich durch das internationale Podcast-Angebot stöbere, wird mir klar: Ich bin viele. Offenbar befinden wir uns mitten in einer Zeitalter-Neuauflage der legendären Radio Days.

Viva La Vida, live!

Für einen Moment in meinem Alltag bemühe ich bis heute die Soundtrack-Funktion: Ohne das ohrenbetäubende «Viva La Vida, live in São Paulo» von Coldplay würde ich keine halbe Stunde auf dem Crosstrainer überstehen.

Lisa Feldmann hat sich schon als Chefredaktorin der Zeitschrift «Annabelle» über die tiefere Bedeutung unserer alltäglichen Lifestyle-Produkte Gedanken gemacht. Heute liest man darüber jeden zweiten Samstag im Blick und auf Instagram unter feldmanntrommelt.

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