Wer Follower hat, hat Macht. Aktuellstes Beispiel dafür: Anna Rosenwasser (33), die dank einer starken Social-Media-Präsenz unerwartet mit Listenplatz 20 vom Zürcher Stimmvolk in den Nationalrat gewählt wurde.
Rosenwasser setzt sich für queere Menschen und deren Anliegen ein und postet ihr Wissen, aber auch ihre Gefühle oft witzig und immer rosa verpackt auf Instagram. Dadurch hat sie sich über Jahre hinweg eine 37'000 Personen grosse Gefolgschaft aufgebaut, die ihr vertraut – und vielleicht sogar das Gefühl hat, sie persönlich zu kennen.
Dieses intime Gefühl ist wertvoll. Denn: In den neuesten Designerteilen vor der Kamera zu posieren, zieht schon lange nicht mehr. Die Gen Z möchte Persönlichkeiten folgen. Sich verbunden fühlen mit dem Menschen auf dem Screen.
So ist es absolut in Ordnung, dass sich Rosenwasser nach ihrer unerwarteten Wahl erst noch überlegen wollte, ob sie ihr Amt überhaupt antritt – und das mit ihren Followern teilte. Auch Zweifel sind menschlich und nachvollziehbar.
Nun ist es aber so, dass die meisten Internet-Promis nicht ins Parlament wollen, sondern lieber richtig viel Kohle scheffeln. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Doch der Grat zwischen gutbürgerlichem Geld verdienen und der eigenen Macht ausnutzen, ist gerade in der virtuellen Welt sehr schmal.
Besonders heikel ist es, wenn Menschen im Internet eine vulnerable Zielgruppe bespielen – etwa zum Thema mentale Gesundheit. Es ist wertvoll, dass dazu aufgeklärt wird und Menschen online ihre Erfahrungen teilen. Wenn dabei aber gleichzeitig auch teure Selbsthilfepakete vermarktet werden, zeigt sich die Kehrseite dieses Austauschs.
Natürlich ist das nicht immer der Fall. Und es ist auch legitim, dass Menschen, die im Internet Aufklärungsarbeit leisten, nach einer Entschädigung für dieses Engagement streben. Doch weil das Internet quasi ein rechtsleerer Raum ohne Kontrollmechanismen ist, geschieht das manchmal auf eine ethisch eher verwerfliche Art und Weise.
Das Ganze funktioniert übrigens auch umgekehrt. Nicht das Publikum wird ausgenutzt, sondern das direkte Umfeld der Internet-Person. Ihre Kinder beispielsweise. Sogenannte «Mom-fluencers» filmen ihre Sprösslinge auf Schritt und Tritt – ein herziges Kleinkind zieht nun mal immer. Auch hier gibt es unterschiedliche Auffassungen davon, was in Ordnung ist. Was potenziell anderen Müttern hilft und was eine Grenzüberschreitung der Privatsphäre des Kindes ist.
Wie immer gibt es gut und böse – und ziemlich viel Raum dazwischen. Meine Generation ist aber mittlerweile ziemlich gut darin, zu erkennen, wie authentisch eine Person im Internet auftritt. Ob es ihr nur um Geld geht oder um die Sache. Und wenn uns jemand wirklich überzeugt, wählen wir sie sogar ins Parlament.
Noa Dibbasey (22) studiert an der Universität Bern Sozialwissenschaften. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.