Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über die Ersatzreligionen unserer Zeit
Wäre ich doch Prediger geworden!

Wer glaubt, verabschiedet sich von billigen Menschenrettungsfantasien. Doch im Moment sind überall Gottesverächter im Aufschwung, die Götzen wie Klima, Diversity und Ernährung anbeten.
Publiziert: 12.12.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.12.2022 um 17:48 Uhr
Foto: Shutterstock
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Wäre ich ein guter Pfarrer geworden? Ich weiss es nicht. Als kleiner Bub war mein Traum: Kirche mit angrenzendem Fussballplatz. Beide Träume sind aus Altersgründen ausgeträumt, sowohl jener vom Gottesmann als auch jener vom Fussballprofi. Immerhin attestieren mir manche Kritiker Predigerqualitäten.

Wäre ich also tatsächlich Pfarrer geworden, würde ich zu Weihnachten 2022 diese Predigt halten:

Gott ist der grosse Buhmann. Und all jene, die trotzdem an ihn glauben, gelten in wohlwissenden Kreisen als Hinterwäldler. Den armen Seelen soll es an kühlem Verstand fehlen. Sie klammern sich verzweifelt an eine Illusion, um Halt im Leben zu finden. Ohne die Gotteseinbildung würden sie zugrunde gehen.

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Wer trotz allem an Gott glaubt, bleibt demütig.
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Falsch! Denn schauen wir nach draussen oder auf einen Bildschirm, stossen wir auf eine grosse Durcheinanderwelt. Das Chaos wächst täglich. Wie passt das zur göttlichen Ordnung? Wer in seinem Leben trotzdem unerschrocken an einen allgütigen und allmächtigen Schöpfer glaubt, muss krasse intellektuelle Kapriolen vollbringen. Ein Leben mit Gott in der Durcheinanderwelt ist mehr als anstrengend – das Gegenteil von Halt.

Aber vor allem: Wer trotz allem an Gott glaubt, bleibt demütig. Er versteht das grosse Ganze nicht, und er gesteht sich dies cool ein. Er verabschiedet sich von billigen Menschenrettungsfantasien und Machbarkeitsglaubenssätzen. Denn er vertraut darauf, dass er – in alter Terminologie – erlöst ist, also von allem Schlechten befreit wird und das ewige Leben hat. Auch hier ist der Gläubige im Kern Realist: Der Mensch, dieses merkwürdige Geschöpf, kann sich selbst nicht erlösen, dafür braucht es ein höheres Wesen.

Anders die Gottesverächter aller Richtungen. Ohne dass sie es bemerken, erfinden sie am laufenden Band Ersatzreligionen und beten immer neue Götzen an, zurzeit besonders in Mode: Klima, Ernährung, Diversity. Wer CO2-neutral lebt, richtig isst, denkt und spricht, darf gewiss sein: Er hat sich selbst erlöst, schon zu Lebzeiten, schon auf dieser Welt, ganz aus eigener Kraft. Er ist rein, er ist gut, er ist gerechtfertigt.

Hier könnte die Predigt langsam zu ihrem Ende kommen. Allerdings bin ich ja kein Pfarrer geworden. Als nüchterner Philosoph frage ich mich – wer ist denn hier nun aufgeklärter? Die Gottesgläubigen, die demütig an sich arbeiten und die Hoffnung bewahren, dass es am Ende trotz allem gut kommt (oder jedenfalls besser als erwartet)? Oder die selbstgerechten Selbsterlöser, die auf alle herabblicken, die nicht wie sie überzeugt sind, dass die Welt ohne sie zugrunde geht?

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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