Geschlechter-Zuschreibungen: Meyer rät
«Wir sollten von toxischer Menschlichkeit sprechen»

Es stört mich (m, 41), dass ständig von toxischer Männlichkeit geredet wird. Als wäre Männlichkeit a priori toxisch.
Publiziert: 30.12.2023 um 18:06 Uhr
Männern wird häufiger Gewalttäigkeit zugeschrieben.
Foto: Shutterstock 716866177
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Thomas MeyerSchriftsteller und Kolumnist

Ein guter Punkt. Interessant auch, dass durchaus von toxischer Weiblichkeit gesprochen, diese aber ausschliesslich als falsche Reaktion auf die männliche verstanden wird: Toxische Weiblichkeit ist demzufolge, wenn eine Frau sich nicht gegen toxische Männer zur Wehr setzt oder deren Mechanismen (Konkurrenzgehabe, Einschüchterung etc.) übernimmt und gegen andere Frauen einsetzt. Manchmal wird sogar behauptet, es könne gar keine toxische Weiblichkeit geben – nur Männer seien toxisch.

Dabei gibt es durchaus destruktive weibliche Verhaltensweisen: Wenn Frauen überkritisch den eigenen Körper und jenen anderer Frauen prüfen und kommentieren; wenn sie Männer diskriminieren und das lustig finden; wenn sie den Groll, den sie gegenüber ihren Vätern und Ex-Partnern hegen, an ihren aktuellen Partnern abarbeiten; wenn sie den Kindsvater nach der Trennung dämonisieren und jahrelang Rache an ihm üben; wenn sie sich partout weigern, Verantwortung zu übernehmen für ihr Verhalten und dessen Konsequenzen; wenn sie andere emotional erpressen; wenn sie sich gegenseitig darin versichern, dass das völlig harmlos und legitim sein soll – all das ist Courant normal und benötigt keine toxische Männlichkeit als Auslöser. Es sind autonome Entscheidungen erwachsener Menschen.

Das soll das Problem der toxischen Männlichkeit in keiner Weise relativieren. Männer verüben kleine, grosse und gigantische Verbrechen gegen Frauen. Angefangen damit, dass sie ihnen weniger zutrauen, bis hin zu tödlicher Gewalt. Es ist nicht zuletzt ein Zeichen toxischer Männlichkeit, dass Femizide in der Berichterstattung bis vor kurzem nicht so genannt wurden, sondern «Beziehungsdrama» – als wäre nicht Frauenhass der Grund für den Mord, sondern eine Meinungsverschiedenheit.

Letztlich sollten wir von toxischer Menschlichkeit sprechen. Denn wenn wir Gewalt jeglicher Art auf dem Gebiet der Geschlechtsdifferenzen verhandeln, verstärken wir diese bloss, ohne irgendetwas zu verbessern. Das eigentliche und dringende Problem ist ein Mangel an Achtung vor dem Leben als solchem.

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