Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Erleichterung ja, Euphorie nein

Donald Trump hat die Wahl verloren. Eine gute Nachricht! Die Umstände, die Trump einst ins Amt gebracht und ihm vier Jahre später über 70 Millionen Stimmen eingebracht haben, sind damit aber keineswegs aus der Welt.
Publiziert: 08.11.2020 um 07:37 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.

Noch tobt und wehrt sich ­Donald Trump. Aber die ­Zeichen stehen auf Wechsel: Der rote Hahn muss das Weisse Haus verlassen. Klar darf man da auf­atmen! Nach vier Jahren Jähzorn und diesen besonders üblen vier ­Tagen seit den US-Präsident­schaftswahlen vom Mittwoch.

Trump hat die Massstäbe des politisch Denk-, Sag- und Mach­baren ­in Bereiche verschoben, die für Jahrzehnte als moralische Sperr­zone galten. Dies nicht nur in seiner ­Heimat: Viele kleine Trumps, die sich auf Social Media tummeln, sprechen Schweizerdeutsch.

Für Euphorie besteht indes auch nach einer Vereidigung von Joe ­Biden keinerlei Anlass. Das liegt an der Person des neu gewählten US-Präsidenten. Vor allem aber sind die Umstände, die Trump einst ins Amt gebracht und ihm vier Jahre später über 70 Millionen Stimmen ein­gebracht haben, nicht aus der Welt.

In seinem Bestseller «Die Abwicklung» beschreibt der Journalist George Packer den Niedergang der USA als Industrienation und den Einfluss des Geldes auf Washington. In diesem Buch aus dem Jahr 2013 hat Joe Biden einen prominenten Auftritt: Packer schildert ihn als uninspirierten, kalten, ja verlogenen Charakter, der sein ­ganzes Leben nur von einem Wunsch beseelt war – zum US-­Präsidenten gekürt zu werden.

Nun sieht Biden diesen Traum verwirklicht. Doch wie er sein Land voranbringen könnte, dazu fehlen dem bald 78-Jährigen die Ideen und die Energie.

Gewiss: Trotz Trump, trotz Biden sind und bleiben die USA eine ­Weltmacht. Ihre ­Bedeutung freilich schwindet. Die Corona-Pandemie – so es hat der französische ­Philosoph Bernard-Henri Lévy formuliert – ist die erste Krise seit hundert Jahren, bei der niemand auf Rettung durch die USA hofft.

Werfen Sie einen kurzen Blick auf die Packung mit den Schutzmasken, die sich irgendwo in Ihrer Wohnung findet. Sie ist nicht made in USA, sie kommt aus China. Der Mund-Nasen-Schutz führt vor Augen, wie sehr sich die globalen Machtverhältnisse verschoben haben.

Die Vereinigten Staaten lehren ­ausserdem, was passiert, wenn immer mehr Menschen vom Gefühl geplagt werden, dass ihr Wohlstand schrumpft. Es ist nicht zuletzt die Angst vor der Zukunft, die so viele Amerikaner zu Trump-Anhängern gemacht hat. Diese panische Wut wird das Klima weiterhin prägen.

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Was bedeutet der Fall USA konkret für uns Bewohner der Alten Welt? Er zeigt, wie wichtig eine funktionierende soziale Marktwirtschaft für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist. Politik, Wirtschaft und Wohlfahrtsstaat müssen den Menschen eine Perspektive bieten. Sonst profitieren die Hassprediger.

Auch kommt Europa nicht umhin, eine eigenständigere und kohärentere Politik zu betreiben. Schaut man sich den Kontinent heute an, klingt das zwar illusorisch. Allerdings kann die Antwort auf das ­serbelnde Amerika ja nicht lauten: «Mehr China»! Die westliche Welt stöhnt wegen Trump – unter Chinas blutigem Diktator Xi Jinping würde sie erst recht zu leiden haben.

Für die EU-Gegner in der Schweiz sind die USA wie China «Gelobte Länder». Die Schweiz solle sich bei den Grossmächten andienen, um maximale Distanz zu Brüssel halten zu können. Dieser Glaube ist erst recht illusorisch, um nicht zu sagen: brandgefährlich.

Unser Land hat keine andere Wahl: Wir müssen an der Zukunft Europas mitarbeiten. Engagierter und konstruktiver, als wir es bisher gemacht haben.

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