Geringes Forscher-Interesse
Die vergessenen Staaten von Amerika

Obwohl die USA immensen Einfluss haben, kümmert sich die Schweizer Wissenschaft kaum um das Land. Das war nicht immer so.
Publiziert: 08.11.2020 um 17:15 Uhr
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Als die US-Kultur in die Schweiz kam: Zuschauer beim Jimi-Hendrix-Konzert in Zürich 1968.
Foto: Blick
Reza Rafi

Ein Radiopionier, der ehemalige Chefredaktor der «Basler Zeitung» und der Geschäftsführer einer Handelskammer gehören in dieser Woche zu den prominentesten Schweizer Amerika-Erklärern.

Gewiss treten die drei kompetent und geistreich auf – doch gibt es Anlass zur Sorge: Wo sind eigentlich, jenseits von Roger Schawinski (75), Markus Somm (55) und Martin Naville (61), die Schweizer USA-Experten aus den Reihen der Wissenschaft?

Literatur- und Kulturthemen

Ein Augenschein bestätigt die Befürchtung: Nordamerika-Forschung ist in der hiesigen Hochschullandschaft dünn gesät. Eine ordentliche Professur für nordamerikanische Geschichte zum Beispiel sucht man hierzulande vergeblich. Soziologische und polito­logische Auseinandersetzungen mit den USA sind rar. Eine Ausnahme bildet das Fach Internationale Beziehungen, wo die Supermacht naturgemäss nicht wegzudenken ist.

Die Amerikanistik-Lehrstühle im Land widmen sich vorwiegend Literaturwissenschaft und Gender Studies. Prominenteste Ver­tre­terin ist Elisabeth Bronfen (62) von der Universität ­Zürich. Sie äussert sich regelmässig auch zu gesellschaftlich-politischen US-Themen; in der Wahlnacht war sie Studiogast bei «10 vor 10». Doch publiziert Bronfen in erster Linie über Literatur; sie habilitierte mit ­einer Kulturstudie über Weiblichkeit und Tod.

Ihr Fachkollege Philipp Schweighauser (49) lehrt an der Universität Basel nordamerikanische Literatur. Er präsidiert die Schweize­rische Gesellschaft für Nordamerikastudien. «Es ist tatsächlich so, dass die Amerikastudien in der Schweiz vornehmlich kultur- und literaturwissenschaftlich ausgerichtet sind», bestätigt er.

Akademisches Desinteresse wegen schlechtem Image

Das macht sich zum Beispiel dann bemerkbar, wenn das wissenschaftliche Echo zu streitbaren Thesen kaum hörbar ist. Wie etwa jene von 2016, eine Firma hätte mittels Facebook-Daten quasi die Präsidentschaftswahlen entschieden.

Amerikas Abwesenheit in der Forschung erstaunt angesichts der immensen Bedeutung der USA für die Schweiz. Die Bundesver­fassung wurde von der amerikanischen Verfassung beeinflusst. Die Vereinigten Staaten sind zweitwichtigste Abnehmer von Schweizer Gütern (44 Milliarden Franken); im Handel zwischen den «Sister republics» erzielte die Eidgenossenschaft 2019 einen Exportüberschuss von 25 Milliarden. Im Steuerstreit bestimmte ­Washington de facto die Schweizer Finanzplatzpolitik. Und unsere Alltagskultur, von der Digitalisierung bis zur Unterhaltungsindustrie, dominieren die Amis ­sowieso.

Für das akademische Desinteresse gibt es einen naheliegenden Grund. Vorsichtig ausgedrückt: Um das Image Amerikas ist es schlecht bestellt. Antiamerikanismus heisst das Schlagwort. Was nicht ohne Folgen bei der Studienwahl bleibt.

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Herbert Marcuse, Jimi Hendrix und Urs Bitterli

Das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Nation zunächst Befreier Europas. Dann, als Bluejeans, Rock'n'Roll und Marlon Brando die Kinderzimmer eroberten, Befreier der Jugend. «Elvis war in den Fünfzigern meine Initialzündung», sagt Rocklegende Toni Vescoli (78). Seine Band Les Sauterelles, mit der er in den Sechzigern die Konzertsäle füllte, wurde zwar von den britischen Beatles und den ­Stones inspiriert. «Aber ohne den Einfluss amerikanischer Musik, ohne Rock und Blues, hätte es die nicht gegeben.»

1968, als Jimi Hendrix im Zürcher Hallenstadion einheizte, hielt die US-Kultur definitiv Einzug.

In den Hörsälen wurden die Schriften des deutsch-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse populär, man verfolgte die sozialen Bewegungen in den Vereinigten Staaten mit Argusaugen. Schweizer Geisteswissenschaftler begannen sich für die USA zu interessieren, es entstanden Arbeiten von bleibendem Wert. 1991 veröffentlichte Histo­riker Urs Bitterli (84) das Standardwerk «Die Entdeckung Amerikas».

Trump ist nach Vietnam und Irak der Tiefpunkt

Sein Kollege Jakob Tanner (70) sezierte wortreich die kulturellen Einflüsse, die über den Atlantik schwappten.

Die Popularität der USA bröckelte erstmals während des Vietnamkriegs, das Konzept des «US-­Im­perialismus» kam in Mode. Die Kritik am ­«Weltpolizisten» erreichte während George W. Bushs Irak-Invasion 2003 einen Höhepunkt.

Endgültig ramponiert wurde das USA-Bild mit Donald Trumps Wahl 2016.
Nun müssen die Medien in historische Tagen wie diesen auf einen überschaubaren Pool von Schweizer Experten zurückgreifen. Auch Toni Vescoli kennt das Land gut. Er hat Freunde in Texas und spielte schon als Vorband seines Idols Bob Dylan (79). «Die Amerikaner sind ein offenes, sympathisches Volk», sagt Vescoli, und fügt an: «Mindestens die Hälfte von ihnen.»

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