Das Warten hat ein Ende! Dieses zähe, zermürbende Warten: Tagelang musste sich die Welt vor dieser rot-blau-grauen USA-Karte der TV-Sender gedulden. Reicht es? Reichts nicht?
Am Samstagabend endlich, um halb sechs Uhr Schweizer Zeit, verkündeten dann CNN, die «New York Times» und sogar Trumps Haussender Fox News das erlösende Resultat: Joe Biden hat die Präsidentschaftswahl 2020 gewonnen!
In Philadelphia, Washington, New York fielen sich Menschen in die Arme, Autokorsos zogen hupend am Central Park vorbei, Tausende tanzten vor dem Weissen Haus.
Der designierte Präsident Joe Biden (77) teilte mit, er fühle sich vom Vertrauen der Amerikanerinnen und Amerikaner geehrt. «Die Arbeit, die vor uns liegt, wird hart sein, aber ich verspreche euch eines: Ich werde der Präsident aller Amerikaner sein – egal, ob sie für mich gestimmt haben oder nicht.»
In seiner Heimatstadt Wilmington im Bundesstaat Delaware perfektionierte Biden im Kreis seiner Familie die Siegesrede und nahm Telefonate entgegen: Von langjährigen Verbündeten, von Regierungschefs aus aller Welt. Seine künftige Vizepräsidentin Kamala Harris (56) unterbrach ihre Joggingrunde, um zu gratulieren: «Wir habens geschafft, Joe!»
Beide änderten umgehend ihre Twitter-Profile. Jetzt steht dort unter anderem «President-Elect» beziehungsweise «Vice President-Elect».
Mehr als vier Millionen Stimmen liegt Joe Biden insgesamt vor Trump. Viel wichtiger im komplizierten amerikanischen Wahlsystem aber ist: Der Demokrat führt nach Auszählung der meisten Stimmen in sämtlichen Schlüsselstaaten. Die vielen Briefwahlstimmen machten es am Ende möglich, dass die US-Medien nach zähem Warten sogar auf Basis unterschiedlicher Modelle den Sieg Bidens im «Swing State» Pennsylvania verkünden konnten – der ihm mit zwanzig Elektorenstimmen über die entscheidende Zielmarke von 270 Wahlleuten hob.
Rechnerisch ist das Ding damit gelaufen. Praktisch aber noch lange nicht. Denn US-Präsident Donald Trump (74) denkt nicht daran, die Macht im Weissen Haus abzugeben.
«Der einfache Fakt ist: Diese Wahl ist noch lange nicht vorbei», teilte er US-Medien umgehend mit. Biden gebe sich «fälschlicherweise» als Gewinner aus. Für den Abend kündigte Trump eine Pressekonferenz an.
Kurz vor Bidens Triumph twitterte er noch: «Ich habe diese Wahl gewonnen, mit Vorsprung!» Dann ging er Golf spielen.
Schon in der Wahlnacht auf Mittwoch hatte sich der jetzige Verlierer zum Sieger ausgerufen. Seither sät er Zweifel am Wahlprozess, strengt Klagen wegen angeblichen Wahlbetrugs an und hetzt seine Basis auf.
«Dass er mit Klagen droht, ist nicht undemokratisch», sagt US-Expertin Claudia Brühwiler (38). Das hätten in der Vergangenheit auch andere getan. «Undemokratisch ist aber, dass Trump das ganze Wahlverfahren infrage stellt und von illegalen Stimmen spricht.»
Trumps Weigerung, die Niederlage zu akzeptieren, könnte die Spannungen in den USA verschärfen. Es drohen weitere, tiefere Risse in der ohnehin gespaltenen Gesellschaft, ein wochenlanges Gezerre und die Gefahr, dass sich Trump-Fans am Ende betrogen fühlen. Eine riskante Lage – und ein Stresstest für die US-Demokratie. SonntagsBlick beantwortet die drängendsten Fragen.
Ab wann ist Biden als Präsident offiziell gewählt?
Wenn alle Stimmen ausgezählt sind (Stichtag: 8. Dezember) und die Mehrheit der 538 Wahlleute (Electoral College) am 14. Dezember für ihn gestimmt hat.
Wie geht es weiter?
Rund um die Wahl laufen zahlreiche Klagen. Die Republikaner pochen auf Neuauszählung oder Löschung von Stimmen, Demokraten klagen eher wegen Diskriminierung und Wahlbehinderung. Deshalb könnte es sein, dass Ergebnisse in einzelnen Bundesstaaten bis zum Stichtag nicht feststehen.
Und wenn nicht alle Stimmen bis zum 8. Dezember ausgezählt sind?
Das ist das Horrorszenario – besonders in Staaten wie Pennsylvania, in denen die Regierung politisch gespalten ist. Der demokratische Gouverneur und der republikanisch dominierte Kongress könnten jeweils ihre eigenen Wahlleute bestimmen. Im US-Kongress in Washington würden dann aus demselben Staat Stimmen für beide Kandidaten ankommen – das kam bereits 1876 einmal vor. Dann wirds noch mal komplizierter, weil es auf die Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus ankommt.
Was geschieht, wenn es im Repräsentantenhaus keine Mehrheit für Biden oder Trump gibt?
Dann würde laut Verfassung Trumps Erzfeindin – die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhaus Nancy Pelosi (80) – am 20. Januar als «Acting President» (geschäftsführende Präsidentin) vereidigt werden.
Kann Trump noch Präsident werden?
Theoretisch ja. Seine grösste Chance sind erfolgreichen Klagen in Bundesstaaten, in denen das Ergebnis besonders eng ist. Dazu muss man wissen: Trump hat ein Viertel der aktiven Bundesrichter und drei der neun Richter im konservativ dominierten Obersten Gerichtshof ernannt. Allerdings ist der Vorsprung Bidens bei den Wahlmännern mit aktuell 279 Stimmen sehr gross, Trump kommt auf 214.
Hat Trump Beweise für Wahlbetrug?
Nein. Auch die Beobachter der OSZE – darunter der Schweizer FDP-Ständerat Josef Dittli (63) – sehen keinerlei Hinweise auf Probleme im Wahlsystem.
Wer hält noch zu Trump?
Den Republikanern droht die Spaltung. Der Senator und Ex-Präsidentschaftskandidat Mitt Romney (73) etwa rief Trump zur Mässigung auf. Allerdings halten zahlreiche andere prominente Republikaner nach wie vor zu ihm und stützen seine haltlosen Betrugsvorwürfe. Dazu zählen: Senator Lindsey Graham (65), Trumps Söhne Eric (36) und Donald Trump Jr. (42), Vizepräsident Mike Pence (61) und Kevin McCarthy (55), republikanischer Minderheitsführer im Repräsentantenhaus.
Kann sich Trump weigern, das Weisse Haus zu räumen?
Die Republikaner können ihm in diesem Fall die Unterstützung und den Schutz der Institutionen entziehen. Dann könnte Trump bei Unruhen nicht die Nationalgarde aufbieten. Die Verfassung erfordert eine Amtsübergabe am 20. Januar. An diesem Tag wird der Secret Service den Wahlverlierer Trump auffordern, seine Koffer zu packen.
Was droht Trump durch seine Abwahl?
Scheidet er aus dem Amt, wird seine Immunität hinfällig, und er müsste sich vor Gericht verantworten. Trump werden Betrug, Behinderung der Justiz, Vergewaltigung, Verstoss gegen das Kampagnen-Finanzierungsgesetz und eigene Bevorteilung vorgeworfen.
Darf Trump 2024 noch mal zur Wahl antreten?
Ja! Die US-Verfassung erlaubt insgesamt zwei Amtszeiten. Er wäre dann 78 Jahre alt – so alt wie Biden in zwölf Tagen, wenn er seinen 78. Geburtstag feiert.