Ende der 1970er-Jahre erlebte der Kalte Krieg eine neue Eiszeit, als die damalige Sowjetunion begann, ihre auf Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen zu modernisieren. Um das «Gleichgewicht des Schreckens» wiederherzustellen, stationierten die USA Cruise Missiles in Westeuropa und investierten Milliarden in neue Rüstungsprogramme.
Mit dem geplanten Raketenabwehrsystem SDI im All wollte US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) das Wettrüsten gewinnen und das «Evil Empire» (Reich des Bösen) in den Ruin treiben.
Spione bekamen manipulierte Software
Mehrere Hundert Sowjet-Spione waren im Westen unterwegs, um moderne Technologie zu stehlen. Die CIA belieferte einige mit manipulierter Software für die Pipeline-Steuerung, um die grösste Einnahmequelle der «Achse des Bösen» zu zerstören.
Damit kein Verdacht aufkam, funktionierte die Software anfangs reibungslos. Erst nach einiger Zeit wachte der im Sourcecode versteckte Trojaner auf und veränderte die Einstellungen für Pumpen, Turbinen und Ventile. Eine der grössten Gaspipelines der UdSSR flog 1982 in die Luft. Der KGB sprach von einem technischen Defekt, andere von Sabotage.
Ein Geheimnis hält vier Jahre
Der Mathematiker David Grimes analysierte bereits in den 1960er-Jahren die
populärsten Verschwörungstheorien und errechnete eine Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent, dass ein Geheimnis nach durchschnittlich vier Jahren gelüftet wird. Weil es schlicht zu viele Mitwisser gibt. Die einen beginnen zu plaudern, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen, andere wollen auf dem Sterbebett noch reinen Tisch machen.
Bei der transsibirischen Pipeline war es schliesslich Thomas C. Reed (88),
Sonderberater des Nationalen Sicherheitsrats unter Reagan, der nach
einem Vierteljahrhundert das Geheimnis lüftete.
Cui bono?
Heute fragen wir uns, wer für die Sabotage von Nordstream 1 und 2 verantwortlich ist. TV-Kommissar Columbo würde nach dem Prinzip «Cui bono?» vorgehen – «Wem zum Vorteil?» – und die USA aufgrund erdrückender Indizien vorladen, zumal diese nie einen Hehl daraus gemacht haben, dass sie Nordstream verhindern werden.
Trotzdem macht es wenig Sinn, wenn sich die «Experten» jetzt gegenseitig anfeinden, denn sicher ist (im Augenblick) nur eins: Keiner weiss mehr. Gemäss David Grimes werden wir es eines Tages wissen.
Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Kürzlich ist sein Thriller «Dirty Talking» erschienen.