Claude Cueni über Nomaden, Legionäre und Touristen
Wie wir zum Reisen gekommen sind

Ein Städtetrip nach Lissabon, Sommerferien auf einer griechischen Insel – für viele heute selbstverständlich. Doch bis zum Massentourismus wars eine lange Reise.
Publiziert: 22.07.2022 um 06:06 Uhr
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Aktualisiert: 21.07.2022 um 22:31 Uhr
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Eine Emigrantenfamilie 1921 in New York. Früher reiste man für ein besseres Leben, um irgendwo anzukommen.
Foto: Atlas Photography
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Claude CueniSchriftsteller

«Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen», schrieb Goethe (1749–1832). Das war nicht immer so. Reisen hatte jahrtausendelang stets einen ganz bestimmten Zweck. Unsere Vorfahren waren Nomaden, immer unterwegs nach neuen Regionen, wo es genügend Nahrung gab. Auch Umweltkatastrophen zwangen sie zum Reisen beziehungsweise zum Verreisen. Bis sie schliesslich vor rund zehntausend Jahren sesshaft wurden und Viehzucht und Ackerbau betrieben.

In der Antike reiste man zu den Tempeln der Götter, wie man heute nach Santiago de Compostela oder Mekka pilgert. Nebst den Händlern, die berufsmässig reisten, waren Ferienreisen den Wohlhabenden vorbehalten, sie suchten im Sommer ihre Zweitwohnsitze am Meer auf. Allen anderen fehlten die Zeit und das Geld dazu.

Allerlei Erfahrungen sammeln

Legionäre und Nichtadlige reisten meistens zu Fuss und legten dabei ca. 30 Kilometer am Tag zurück, in etwa die Distanz von Zürich nach Winterthur, eine Strecke, die wir heute mit dem Auto in 30 Minuten bewältigen. Es gab so was wie ein Fernstrassennetz mit Herbergen, die Reisende und die Pferde der Postboten und Kutscher versorgten und nebst Speis und Trank auch sexuelle Dienste anboten.

In der Renaissance (ca. 1400 bis 1620) sandte der europäische Adel seine Söhne auf die grosse Bildungsreise, die Grand Tour, die meistens nach Italien führte. Dass Reisen bildet, galt schon damals als Binsenweisheit. Unter Bildung verstand man auch das Sammeln erotischer Erfahrungen.

Louis Vuitton reist mit

Mit dem britischen Reisepionier Thomas Cook (1808–1892) wurden erstmals Pauschalreisen in die entlegenen Kolonien des British Empire angeboten, das nach dem Ersten Weltkrieg sagenhafte 35 Millionen Quadratkilometer umfasste. Der technische Fortschritt der industriellen Revolution machte es möglich, dass nun Reisen dank Automobil, Eisenbahn und Dampfschiff günstiger und somit auch für den Mittelstand erschwinglich wurden. Die entstehende Tourismusbranche schaffte neue Jobs, die Reiseliteratur boomte, und Louis Vuitton (1821–1892) fabrizierte robuste Reisetruhen.

Doch erst in den 1960er-Jahren setzte dank höheren Realeinkommen, mehr Freizeit und günstigen Charterflügen der Massentourismus ein: Man reiste nicht mehr, «um anzukommen, sondern um zu reisen».

Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Ende August erscheint sein Thriller «Dirty Talking».

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