Claude Cueni über die Farben der Haut
Blaues Blut und weisse Engel

Wer sich seine Sonnenbräune nicht in den Strandferien geholt hat, holt es mit dem nahenden Sommer hier nach. Der schön gebräunte Teint der Attraktiven, Dynamischen, Erfolgreichen – bei uns gilt er als erstrebenswert. Andernorts vermeidet man ihn um jeden Preis.
Publiziert: 10.06.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2022 um 18:33 Uhr
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Helle Haut war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstrebenswert.
Foto: Kristiane Vey / jump fotoagentur
Claude Cueni

«Wenn du dir dann das Gesicht einreibst mit der obigen Mischung, wird es glänzend, dass selbst heller dein Spiegel nicht strahlt», dichtete der römische Schriftsteller Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) vor zweitausend Jahren und gab jungen Frauen Ratschläge, wie sie ihre Haut aufhellen können.

Helle Haut war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstrebenswert, denn vornehme Blässe signalisierte, dass man nicht draussen auf den Feldern der sengenden Sonne ausgesetzt war. Da die Blutadern hellhäutiger Menschen oft bläulich wirken, assoziierte man bereits im Mittelalter «blaues Blut» mit adliger Abstammung.

Wer dem damaligen Schönheitsideal genügen wollte, musste ein bisschen leiden. Man trug ein hochgiftiges Essig-Bleiweiss-Gemisch auf die Gesichtshaut auf. Die englische Königin Elisabeth I. (1533–1603) benutzte dieses antike Make-up, um ihre Pockennarben zu bedecken, und erhielt darauf den Beinamen «Elfenbein-Regentin». Sie war not amused und löste das Problem, wie wir das heute aus der Politik kennen: Sie liess alle Spiegel im Palast abhängen.

Weisser als weiss, frischer als frisch

Mit der beginnenden Industrialisierung wurde die Luft in den Städten von giftigem Schwefeldioxid und Rauchgas belastet. Man verbrannte enorme Mengen Kohle. An gewissen Tagen konnte man kaum noch atmen. Die Gutsituierten flohen aufs Land, an die frische Luft, und Sonnenbräune wurde nun mit Gesundheit und Reichtum assoziiert.

Heute bedeutet im Westen gebräunte Haut, dass man sich Ferien in tropischen Ländern leisten kann oder wenigstens ein Abo im Solarium. Während man wie «panierte Schnitzel» (so der Basler Kolumnist -minu) an Asiens Stränden liegt, gilt dort weiterhin das Schönheitsideal der alten Shang-Dynastie (1600–1046 v. Chr.). In fast allen Sonnencremen finden sich Substanzen zur Aufhellung der Haut. Nachgeholfen wird mit Pillen und Injektionen. «White Superfresh» behauptet, dass man sich «nicht frisch fühlt, wenn man nicht weiss aussieht». Oceanlab verspricht in TV-Spots, dass es ein Traum sei, «ein weisser Engel zu sein», in indischen Heiratsanzeigen werden gezielt Frauen mit heller Haut gesucht.

Porzellanweiss oder sonnengebräunt? Attraktiver ist wahrscheinlich ein freundliches Lächeln, Empathie, eine Prise Humor und Selbstironie.

Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Im August erscheint sein Thriller «Dirty Talking» in der Edition Königstuhl.

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