Claude Cueni über Anfang und Ende
Auf toten Pferden kann man nicht reiten

Jede Zeit hat ihre eigenen Hypes. Früher zahlte man Geld, um mit Verkleideten im Eisbärenkostüm zu posieren. Heute ist jeder sein eigener Eisbär.
Publiziert: 04.03.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.03.2022 um 18:36 Uhr
Fotos mit Unbekannten im Eisbärenkostüm waren einst eine beliebte Attraktion – hier in den 1950er-Jahren in Deutschland.
Foto: imago
Claude Cueni

Der kleine Junge erschrak zu Tode. Ein zotteliger Eisbär von zwei Meter Länge hatte seine riesigen Pranken auf seine Schultern gelegt. Er schrie, doch seine Eltern lachten ihn aus. Sie befahlen ihrem Sohn, endlich stillzuhalten, damit der Fotograf an der Strandpromenade Ostseebad ein unverwackeltes Bild schiessen konnte.

Heute findet man ab und zu auf Flohmärkten vereinzelt Schwarz-Weiss-Fotos, auf denen Touristen mit einem Eisbären posieren. Die Unbekannten im Eisbärenkostüm sitzen auf Motorrädern, posieren mit US-Soldaten, schieben Kinderwagen, stehen stramm neben Geschäftsleuten in feinem Tuch oder herzen Frauen in Badeanzügen in einer zweideutig frivolen Art, die heute eine hysterische Bärenjagd auslösen würde.

Den Hype ausgelöst hatte der Berliner Zoo in den 1920er-Jahren. Um die Attraktivität zu erhöhen, steckte er einen hitzebeständigen Angestellten in ein schneeweisses Eisbärenkostüm und schickte ihn zusammen mit einem Fotografen vor den Eingang. Heute kann man in den Niederlassungen von Madame Tussauds in London, New York oder Shanghai mit Albert Einstein, Queen Elisabeth oder Dwayne Johnson posieren. Damals waren solche Erinnerungsfotos so aussergewöhnlich, dass daraus ein Geschäft wurde. Eingespielte Duos traten an Jahrmärkten auf und sicherten sich damit ein gutes Einkommen. Ein Fotoshooting kostete mehr, als ein Arbeiter in der Stunde verdiente.

Nie das Ende von allem

Ende der Sechzigerjahre besassen immer mehr Menschen einen eigenen Fotoapparat, Kameras aus Fernost eroberten den Massenmarkt, das Schwitzen im Eisbärenkostüm hatte ein Ende. Die Fotografen suchten sich neue Sujets, denn «auf toten Pferden kann man nicht reiten». Wer die Weisheit der Dakota-Indianer nicht beherzigte, den bestrafte das Leben. Kostümierte Maskottchen wurden im Fussball, in Disneyparks und vor Fast-Food-Ketten gebräuchlich, aber die Zeit der Eisbären war endgültig vorbei.

Der technische Fortschritt beendet sowohl die kleinen als auch die grossen Hypes, die der Zeitgeist ausscheidet. Er lässt Branchen sterben und neue entstehen. Das Ende von etwas ist nie das Ende von allem.

Die Eisbären sind verschwunden, der Drang nach dem «besonderen Foto» ist geblieben. Im Selfiezeitalter ist jeder sein eigener Eisbär.

Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im Blick. Zuletzt erschienen im Verlag Nagel & Kimche die Romane «Genesis» (2020) und «Hotel California» (2021).

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