BLICK auf die USA: US-Korrespondent Nicola Imfeld über die entscheidende Frage bei den amerikanischen Protesten
Systematischer Rassismus – gibts den wirklich?

Jede Woche schreibt USA-Korrespondent Nicola Imfeld in seiner Kolumne über ein Thema, das jenseits des Atlantiks für Aufsehen sorgt. Heute geht es um die komplexe, aber alles entscheidende Frage: Gibt es systematischen Rassismus in Amerika wirklich?
Publiziert: 12.06.2020 um 04:07 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2020 um 06:49 Uhr
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Nicola Imfeld, USA-Korrespondent der Blick-Gruppe.
Foto: Zvg
Nicola Imfeld aus San Diego (USA)

In Amerika gebe es systematischen Rassismus, behaupten sämtliche klassischen Medien und linke, respektive liberale Politiker in den USA. Auch einige konservative Stimmen sind sich mit der Mehrheit der Bevölkerung einig. Doch wie man diese Aussage faktisch belegen kann, wird kaum thematisiert.

Es ist auffällig: Beim unbeliebten US-Präsidenten Donald Trump (73) wird von linken Politikern und klassischen Medien – zu Recht – jede Aussage einem Faktencheck unterzogen. Aber wenn es um ein Thema geht, das den meisten Menschen ins Weltbild passt und scheinbar gute Beweggründe dahinterstecken, dann wird es meist ohne grosse Nachforschungen als «Fakt» auf dem Teller serviert.

Kein Wunder, stecken gerade die amerikanischen Medien in einer Vertrauenskrise. Aktuell verlassen sich nur noch 41 Prozent auf sie. Doch wenn die Medien jedes Thema so genau prüfen würden, wie wenn es von Präsident Trump kommt, könnte man das Vertrauen der Bevölkerung vielleicht wieder ein Stück weit zurückgewinnen.

Diese Kolumne aber soll keine Medienkritik werden. Dafür ist das Thema viel zu wichtig. Es geht um die Frage, die sonst nur selten gestellt und nahezu nie ausreichend beantwortet wird: Gibt es systematischen Rassismus in Amerika tatsächlich? Vorweg: Die Thematik ist wesentlich komplexer, als Politiker beider Lager, Medien und Instagram-Influencer wissen, oder es erscheinen lassen.

Der transparente Weg zur Antwort

Ich habe mir in den vergangenen zwei Wochen täglich diese Frage gestellt. Während der Recherche habe ich mit zahlreichen Fachleuten Gespräche geführt und meinen afroamerikanischen Kollegen zugehört. Diese Kolumne soll transparent die Überlegungen und letztlich den Weg zur Antwort auf die Frage aufzeigen.

Erste Reaktion: Wer das schreckliche Video von der Ermordung von George Floyd (†46) gesehen hat und auch nur ein kleines Stück Empathie besitzt, muss schockiert gewesen sein. Da es bei Weitem nicht das erste dieser Art war, lag der erste Schluss nahe: «Wieder ein weisser Polizist, der aus rassistischen Gründen einen Afroamerikaner umbringt. Amerika hat ein Rassismus-Problem!» Doch hier sollte man nicht stehen bleiben – zumindest als Journalist, Politiker oder wissbegieriger Mensch.

Aufhorchen: Amerika ist nach dem Mord an George Floyd in Aufruhr. Millionen Menschen gehen auf die Strassen, fordern Gerechtigkeit und protestieren gegen den systematischen Rassismus im Land. Aber gibt es den wirklich? Und wie wäre das belegbar?

Statistiken: Es gibt zahlreiche Beiträge von renommierten Medien wie der «Washington Post», «New York Times» und Co., die systematischen Rassismus mit Studien zu belegen versuchen. Eine oft zitierte Statistik ist jene von 2017, die aufzeigt, dass Dunkelhäutige zweieinhalb Mal mehr von Polizisten getötet wurden als Weisse. Doch das Problem bei solchen Daten ist, dass mehrere Variablen nicht berücksichtigt werden. Es müsste unter anderem in Betracht gezogen werden, welche ethnische Gruppe mehr und vor allem auch schwerere Straftaten begeht. Ohne diese Daten gibt die Statistik ein unvollständiges und verzerrtes Bild ab.

Daten verstehen: Es ist nicht so, dass man die weiteren Variablen nicht finden könnte. Tatsächlich begehen Schwarze deutlich mehr «schwere Verbrechen» als Weisse. Laut dem FBI-Bericht von 2017 waren Afroamerikaner für 53,1 Prozent aller Morde verantwortlich, 44,2 Prozent wurden von Weissen verübt. Demgegenüber steht der Anteil Schwarzer in Amerika mit 13,4 Prozent, jener der Weissen mit 76,5 Prozent. Das ist eine extreme Diskrepanz und kann zumindest teilweise erklären, weshalb Afroamerikaner an Tatorten häufiger erschossen werden.

Gründe verstehen: Natürlich begehen schwarze Menschen nicht schwerere Verbrechen aufgrund ihrer Hautfarbe. Es sind die Lebensumstände, die zu dieser Diskrepanz zwischen Weissen und Schwarzen führen. Es ist mehrfach erwiesen, dass die Wahrscheinlichkeit eine Straftat zu begehen steigt, wenn die Person in Armut lebt. 20,8 Prozent der rund 38 Millionen Amerikaner, die im Jahr 2018 von Armut betroffen waren, sind Afroamerikaner. Nur gerade 10,1 Prozent der Weissen fällt in diese Kategorie.

Die Folgen: Jeder dritte Schwarze wird einmal in seinem Leben im Gefängnis landen. Bei den Weissen trifft es nur jeden zwölften. Wer in Amerika eine Haftstrafe abgesessen hat, ist in der Folge nachweislich benachteiligt: bei der Jobsuche, beim Wohnungsbau, bei der Rente und so weiter.

Definition von Rassismus: «Die Überzeugung, dass ein Beweggrund wie Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, Staatsangehörigkeit oder nationale oder ethnische Herkunft die Missachtung einer Person oder Personengruppe oder das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer Person oder Personengruppe rechtfertigt.» So definiert die entsprechende Europäische Kommission Rassismus. Bedeutet: Es muss eine Person, oder Gruppe, direkt einen anderen Menschen, oder Gruppe herabsetzen. Aber beim Begriff «systematischem Rassismus» geht es, wie es der Name impliziert, um ein System. Also kann ein System auf den ersten Blick gar nicht rassistisch sein. Da es, per Definition, immer um eine direkte Handlung respektive Missachtung geht.

Antwort: Das System ist so, weil es von Menschen entworfen wurde, um Schwarzen das Leben zu erschweren. Amerikanische Städte wurden mit der Absicht gebaut, Schwarze in ihren eigenen, ärmeren Gegenden zu isolieren. Schulen wurden mit der Absicht entworfen, Schwarzen den Besuch wohlhabenderer Schulen in weissen Stadtvierteln zu erschweren. Das Strafrechtssystem selbst beruht auf der Aufrechterhaltung einer unverhältnismässigen Art von Gerechtigkeit, die durch direkte rassistische Ideologie geschaffen wurde. Um das zu belegen, kann man bis ins Jahr 1865 zurückgehen, als die Sklaverei abgeschafft wurde, aber Gesetze, die zur Rassentrennung führen, die Integration der Schwarzen in das kapitalistische System verhinderten. Oder aber man kann John Ehrlichman zitieren, der Chef-Berater von Ex-Präsident Richard Nixon (1969–1974):

«Die Nixon-Kampagne 1968 und das Weisse Haus danach hatten zwei Feinde: die linken Kriegsfeinde und die Schwarzen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Wir wussten, dass wir es nicht illegal machen konnten, entweder gegen den Krieg oder schwarz zu sein, sondern indem wir die Öffentlichkeit dazu brachten, die Hippies mit Marihuana und die Schwarzen mit Heroin in Verbindung zu bringen. Und indem wir dann beides stark kriminalisieren, konnten wir diese Gemeinschaften zerstören. Wir konnten ihre Führer verhaften, ihre Häuser plündern, ihre Versammlungen unterbrechen und sie Nacht für Nacht in den Abendnachrichten verunglimpfen. Wussten wir, dass wir über die Drogen logen? Natürlich wussten wir es.»

Fazit: Es ist heute das amerikanische System und – im Vergleich zu früher – seltener der offen zur Schau gestellte Rassismus, der die Schwarzen benachteiligt. Aber weil dieses System von Menschen mit rassistischen Ideologien entworfen und bis zum heutigen Tag nicht grundlegend reformiert wurde, bleibt es rassistisch. Die Afroamerikaner bleiben im System gefangen. Ein Teufelskreis. Und deshalb ist die Antwort auf die komplexe Frage, ob es in Amerika auch im Jahr 2020 systematischen Rassismus gibt, eindeutig: Ja!

Was denken Sie über die Thematik? Falls Sie zu einem anderen Schluss kommen: weshalb? Schreiben Sie es uns in die Kommentare.

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