In den 1970er-Jahren wollten viele von uns Zigeuner sein, denn Zigeuner waren unkonventionelle Lebenskünstler ohne festen Wohnsitz. Das war das Lebensgefühl der Flower-Power-Generation. Wir wollten frei sein. Der Zigeunerlook war populär, er stand für Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll. Das Zigeunerleben wurde in Liedern besungen und in Filmen romantisch überhöht. Als Teenager war ich verdammt stolz, als ich als Vagabund per Autostopp durch Europa reiste, denn irgendwie war ich ein bisschen Zigeuner.
Intellektuelle massen sich an, die Bedürfnisse von Randgruppen zu definieren
Soeben ist Göläs Autobiografie «Zigeunerherz» erschienen. Der Religionspädagoge Stefan Heinichen (57) nennt den Buchtitel «eine Verharmlosung und eine Negierung der Bedürfnisse der Sinti- und Roma-Gemeinschaften in der Schweiz». Definiert er neuerdings schulmeisterlich, welche Bedürfnisse Sinti und Roma haben sollten?
Selbst Fahrende nennen sich stolz Zigeuner. Der Schweizer Verein Zigeunerkultur organisiert jeweils die «Zigeunerkulturtage» und schreibt auf seiner Homepage: «Wir benützen dieses Wort aber bewusst und mit positivem Selbstverständnis.»
So stellt sich die Frage, wer eigentlich den Sinti und Roma und der Gesellschaft im Allgemeinen einreden will, dass Zigeuner zum Wortschatz von Rassisten gehört. Der überhebliche Belehrungszwang entsteht stets im universitären Umfeld privilegierter Intellektueller, die den Alltag normaler Leute nur vom Hörensagen kennen und die meiste Zeit mit Genderfragen und künstlichen Debatten über Ampelmännchen und rassistischen Produktebezeichnungen verbringen.
Journalisten versuchen, sich in politischer Korrektheit zu übertreffen
Was diese Sprachpolizei lautstark proklamiert, interessiert praktisch niemanden. Umso grösser ist das Interesse bei jenen Journalisten, die sich gegenseitig in Political Correctness übertreffen wollen.
Wenn also Göläs Biografie den Titel «Zigeunerherz» trägt, wünscht man sich etwas mehr Gelassenheit. Die Meinungsfreiheit endet nicht dort, wo selbst ernannte Kulturkrieger die Grenzen ziehen. Gölä ist einer jener Zigeuner aus der Nach-Woodstock-Ära, so wie auch ich einer war. Wir mochten Zigeuner.
Wahrscheinlich überarbeiten jetzt die meisten Restaurants vorsichtshalber ihre Speisekarten und ersetzen das «Zigeunerschnitzel» durch «Schnitzel ohne festen Wohnsitz».
Claude Cueni (64) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Sein neuer Thriller «Genesis – Pandemie aus dem Eis» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen.