Wir leben in postheroischen Zeiten. Seit dem Zweiten Weltkrieg erzählen wir uns weniger Geschichten von den so genannt grossen Taten, eher interessieren wir uns für deren Opfer – ein zivilisatorischer Fortschritt.
Nicht nur anerkennen wir die Opfer von Nationalsozialismus, Kommunismus, Kapitalismus, ebenso sind wir bemüht, alle anderen Formen von Diskriminierung zu vermeiden, symbolische wie strukturelle, sexistische wie rassistische.
Dabei wissen wir fein zu unterscheiden. Wenn zum Beispiel eine Lehrperson einem Kind mit einem fremd klingenden Namen systematisch schlechtere Noten gibt, dann muss das nicht bedeuten, dass sie dessen Intelligenz grundsätzlich infrage stellt, vielleicht geht sie auch einfach davon aus, es komme aus einem bildungsfernen Elternhaus. Hier wäre also weniger ethnische Diskriminierung am Werk, eher ein sozioökonomisches Vorurteil.
Wer Opfer respektiert, gewinnt auch selber
So hinterfragen wir uns und sensibilisieren uns, wir sind ja keine bösen Menschen. Nur wenige würden sich selber als Rassisten oder Sexisten, als homo-, islamo- oder transphob bezeichnen.
Wir respektieren unsere Opfer. Wir leihen ihnen unser Ohr und gestehen ihnen einen sozialen Prestigegewinn zu – als Opfer. Dabei gewinnen wir auch selber. Das geht ganz leicht und ist potenziell für jeden möglich. Man sage nur, dass man kein Rassist sei, man unterlasse sexistische Sprüche und ebenso rassistische und bekämpfe Racial Profiling – Selbstverständlichkeiten –, schon fliegen einem viele Sympathien zu.
Manche wollen die Regeln weiterhin ganz alleine bestimmen
Doch nicht alle nehmen dieses Angebot an. Es gibt welche, die wollen mehr. Die wollen als Opfer der Opfer anerkannt werden. Die wollen unsere Sprach-, Verhaltens- und Hausregeln weiterhin ganz alleine selbst bestimmen. Sie identifizieren sich mit den gecancelten Mohrenköpfen, den gecancelten Sklavenhalterdenkmälern oder auch mit der von einer Veranstaltung ausgeladenen österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart. Dass sie sich als Opfer der Opfer beklagen, begreifen sie gerne als rebellische Heldentat.
Wer gewinnt diesen Opferwettbewerb? Die Jungen. Und zwar mit heiter-ironischer Freundlichkeit. Sagten sie früher: «Hey, Alter, kommst du auch in die Cafeteria?», so sagen sie neuerdings: «Hey, Opfer, kommst du auch in die Cafeteria?» Alles wird gut.
Ursula von Arx hält es mit Galilei, der bei Brecht sagt: «Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.» Und fragt sich, ob, wo keine Helden sind, wirklich so viele Opfer sein müssen. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im BLICK.