Heuchelei und Scheinheiligkeit sind nicht nur in katholischen Kirchen verbreitet, wo sich manche unmittelbar zu Gott wähnen und sich darum alles erlauben. Es gibt auch eine Alltagsheuchelei, die da wirkt, wo der grüne Geist weht. Sie zeigt sich, wenn man den grünen Bekenntnissen Tatsachen gegenüberstellt, frei nach Mätthäus 7:16: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.»
Sie, das sind wir – oder zumindest manche von uns. Klima-, Wärme- und Verkehrswende? Von wegen. Ob Lufthansa, McDonald’s, Coca-Cola, British Petroleum oder Unilever – Zahlen lügen nicht: Die Aktienkurse steigen wieder. Die Preise für Flugtickets steigen zwar auch, aber ebenso die Anzahl kommerzieller Flugzeuge, die weltweit im Einsatz sind.
Nach Angaben von Flightradar24 waren zur Jahresmitte 139'000 Flieger unterwegs – die höchste Zahl seit dem Start des Dienstes vor 17 Jahren. Gabor Steingart, der deutsche Superjournalist («The Pioneer»), hat es jüngst in seinem Briefing so formuliert: «Überall in den entwickelten Ländern wird mehrheitlich anders gegessen, getrunken, gekauft, geheizt und gelebt, als geredet.»
Mit Ausnahme der Schweiz? Denkste! Ein paar Zahlen:
- Die Zahl der Personenwagen steigt zuverlässig mit der Zahl der Bevölkerung. Waren es 2012 noch rund 4'255'000 Fahrzeuge, sind es zehn Jahre später 4'721'000.
- Zwar nimmt die Zulassung von Stromern und Hybrid-Fahrzeugen zu. Doch Achtung – mehr als 90 Prozent der privaten Fahrzeugflotte tankt nach wie vor Benzin oder Diesel.
- Hat dafür die angebliche Flugscham das Flugbedürfnis von uns Mobilitätsversessenen gezügelt? Fehlanzeige. Im ersten Halbjahr 2023 liegt die Zahl der Flugpassagiere in der Schweiz schon wieder bei fast 90 Prozent des Aufkommens von 2019 – dem Topjahr in der Geschichte des Fliegens, auf das der Corona-Einbruch folgte.
- Okay – aber die Menschen werden gewiss ihrem Wohnraum eingeschränkt haben, um so ihre Emissionen zu reduzieren? Nicht wirklich. Der Platzbedarf pro Person wächst seit Jahren ungebrochen – 2021 waren es bereits stolze 46,6 Quadratmeter.
Zeit zu verzagen, zu weinen, zu schäumen? Keineswegs. Denn wir alle leben heute umweltbewusster als noch vor Kurzem. Der Ressourcenverbrauch – und damit einhergehend auch der CO2-Ausstoss – hat sich dank technologischem Fortschritt vom Wirtschaftswachstum entkoppelt. Wir machen aus weniger immer mehr.
Hand aufs Herz, niemand will ein Ende von Wachstum und Wohlstand – ausser ein paar Klimakleber und Medienaktivisten. Herr und Frau Schweizer sind weder Asketen noch Heilige und manchmal sogar echte Heuchler. Aber sie mühen sich zugleich redlich. Kurzum, sie sind, wenn nicht wahrhaftige, so doch wahrhafte Menschen!
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.