Zählen Sie ebenfalls zu jenen, die sich um die gesellschaftliche Polarisierung sorgen?
Die gute Nachricht ist, dass politische Polarisierung an sich kein Problem darstellt – im Gegenteil. Entgegengesetzte Standpunkte erlauben erst jenen fruchtbaren Streit, der tragfähige Lösungen hervorbringt. Gerade bei der Suche nach Antworten auf die grossen Fragen von Klimawandel, Migration, Globalisierung oder Staatswachstum. Und dieser Streit fand in der mitteleuropäischen Wohlstandsblase zuletzt viel zu wenig statt. Zu gross war die politische Einigkeit über die schuldenfinanzierte Wohlfühlpolitik der sich staatstragend gebenden Parteien. Das Motto lautete: Alle gegen einen und einer gegen alle. Auf die Schweiz gemünzt: Alle gegen die Populisten der SVP und die SVP gegen das Establishment (oder umgekehrt).
Die schlechte Nachricht ist, dass die affektive Polarisierung sich tatsächlich verschärft hat. Gemeint ist damit, dass die Anzahl jener zugenommen hat, die Meinungen nicht als mehr oder minder plausible Ansichten betrachten, sondern als Bestandteile ihres Selbst. In den Meinungen steht dann buchstäblich das Meinige auf dem Spiel, die eigene Identität. Um sie zu verteidigen, werden Andersdenkende abgewertet – als dumm, niederträchtig oder krank. Aus Gegnern werden Feinde. Sie gehören aus dem demokratischen Diskurs ausgeschlossen, neudeutsch: gecancelt.
Aufgeklärt & abgeklärt – Kolumnen von René Scheu
Eine neue europäische Studie des Forschungsinstituts Midem an der Technischen Universität Dresden fördert vor diesem Hintergrund Bedenkenswertes zutage (es wurden 20'000 Personen aus zehn EU-Ländern befragt): Besonders intolerant gegenüber Andersdenkenden sind ältere Menschen, solche mit höherem Bildungsabschluss und besserem Verdienst sowie – tja – die Bewohner des urbanen Raums. Wer sich als progressiv, ökologisch und links beschreibt, ist dabei messbar intoleranter als Personen, die sich rechts im politischen Spektrum verorten.
Sogleich ging durch die Blase linker Politiker und Intellektueller ein Aufschrei, der den Befund der Studie natürlich bloss bestätigte. Doch ist dieser wirklich verwunderlich? Links sein meinte ursprünglich, sich für die Anliegen der Schwächeren und Marginalisierten einzusetzen – auch unter Aufgabe eigener Vorteile. Die neuen wohlsituierten «Lifestyle-Linken» (Sahra Wagenknecht) hingegen verteidigen bloss ihre eigenen Privilegien als wohlbestallte Zeitgenossen mit eigener akademischer Kunstsprache, die alle Abweichler ausschliesst. Sie verwechseln ihren neourbanen Dünkel mit dem urlinken Gerechtigkeitssinn. Wann fliegt der Bluff auf? Wann platzt die Blase?
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.