Der Kulturschock beginnt am Flughafen. Aber nicht so, wie manche Eidgenossen wohl denken. Die Brasilianer sind nicht schlecht organisiert. Stattdessen liegen die Koffer schon wenige Minuten nach der Landung griffbereit auf dem Gepäckband.
Nein, der Clash of Civilisation findet anderswo statt – in der Flughafen-Buchhandlung. Sie ist mit einer Menge kluger Ratgeber-Literatur bestückt. Wie erreiche ich Selbstdisziplin? Wie gestalte ich mein Business? Was bedeutet Üben? Was sind bewährte Erfolgsrezepte? Und wie erreiche ich Seelenruhe in der grossen Durcheinanderwelt?
Natürlich kann der Mitteleuropäer auch darüber lächeln, nach der Logik: Die ungebildeten Brasilianer glauben noch an die heilenden Kräfte der Selbstwirksamkeit. In Wirklichkeit verhält es sich eher andersherum: Was für eine Naivität der Europäer, das Erfolgsstreben einer Nation von Selbstunternehmern so zu verachten. Die Buchhandlungen an brasilianischen Flughäfen sind eine Wohltat. Der ganze westliche Miserabilismus, die umfassende Larmoyanz-Literatur fehlt. Von Klagen, Anklagen, Beklagen keine Spur. Alltagskapitalismus in Bestform.
Doch nicht nur in der Theorie ist es so, sondern auch in der Praxis. Ich war in Araxá, einem Kurort im Südwesten von Minas Gerais, der einstigen Goldgräber-Region Brasiliens. Die Stadt hat sich in den letzten zehn Jahren unglaublich entwickelt, dem Vorkommen von Phosphaten und Niob sei Dank. Im Kurhotel, in den 1940er-Jahren erbaut, könnte Thomas Manns Zauberberg spielen. Araxá ist ein Ort mit Würde und Hunderten kleiner Geschäfte. Die Stadt boomt.
Wer einen Laden betritt, wird herzlich empfangen. Es ist mehr als professionelle Freundlichkeit und auch mehr als Ausdruck sonniger Gemüter in einem Land, in dem fast immer die Sonne scheint. Es ist echte Herzlichkeit – die Herzlichkeit des kapitalistischen Wirtschaftens. Jeder Angestellte tut alles, um dafür zu sorgen, dass der Kunde zufrieden ist. Der Abschiedsgruss, immer gleich, immer sympathisch: «Kommen Sie wieder!»
In Brasilien geht mir viel durch den Kopf. Der Sozialismus – das Ideal der materiellen Gleichheit und das damit einhergehende Dauerklagen über kleinste Ungleichheiten im Vergleich mit anderen – ist das Symptom einer saturierten Gesellschaft. Der Kapitalismus – das Streben nach dem eigenen Erfolg – ist Ausdruck eines Landes, das noch nicht alles hat und also etwas vorhat.
Das brasilianische Lebensgefühl ist grossartig: Der Himmel ist blau, der Mensch arbeitet an sich und seiner Welt, Leben heisst Geschäften. Neuer Tag, neues Glück. Neue Welt, alte Tugenden!
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.