Frank A. Meyer – die Kolumne
Die Ordnung der Unordnung

Publiziert: 06.08.2023 um 00:11 Uhr
Foto: Antje Berghaeuser
Frank A. Meyer

Doch, es stimmt, Ehrenwort, und wer’s nicht glaubt, kanns googeln: Die «Woz», das liebenswürdige Leib- und Leitblatt der linksgrünen Katecheten, feiert auf zwei Seiten den Anarchismus, und zwar in einem begeisterten Rückblick auf Michail Bakunins Abstecher ins Sankt-Immer-Tal, also nach St-Imier im Jura, allwo der russische Revolutionär die «Antiautoritäre Internationale» präsidierte – die Weltorganisation der legendären Uhrmacher-Anarchisten.

Sensationell, eine Lobrede auf dieses Ereignis von 1872 in der grünmarxistisch grundierten Wochenzeitung!

Ergriffen huldigt die Zürcher Redaktion der Anarchie – eine Absage vor allem an die marxistische Heilslehre, auf deren Endmoräne die Grünlinke ihre Endzeit-Einsichten predigt: Wie die Schweiz zu retten sei, wie Europa, wie die Welt.

Marxismus und Anarchismus sind seit je wie Wasser und Feuer – ideologische Erbgegner. Denn Anarchisten sind das Gegenteil von politisch korrekt – dem Schlüsselbegriff, der allen zentralen Geboten der grünlinken Glaubenslehre zugrunde liegt:

Korrekt reden, also gendern; korrekt essen, also fleischlos, am besten vegan; korrekt fahren, also ohne Auto, stattdessen mit dem Lastenfahrrad; korrekt reisen, also aufs Flugzeug verzichten; korrekt Diversität pflegen, also Quoten fordern für People of Color, Transmenschen, Migranten mit muslimischem Hintergrund; korrekt das Kopftuch verteidigen, also den klassischen Feminismus verachten.

So zu leben, wäre das Paradies – wenn nur niemand nach den vielen verbotenen Äpfeln greift! Wer dennoch davon nascht, wird geshitstormed und gecancelt, wie es in korrekter Kirchensprache heisst.

Anarchisten aber kommt es einfach nicht in den Sinn, dieser Garten-Eden-Ordnung gerecht zu werden – «woke» zu sein, wie die Prädikanten-Elite ihre klerikale Aufsichtsmoral neusprachlich zu bezeichnen pflegt. Anarchisten hassen politische und ideologische Korrektheit aus tiefster Seele – und landen daher in Zeiten des säkular-religiösen Korrektheitswahns auf dem medialen Scheiterhaufen.

Korrektismus gegen Anarchismus!

Was aber ist, was wäre Anarchismus heute?

Um einen völlig verpönten Begriff ins Spiel zu bringen: Er wäre bürgerlich.

Anarchismus – bürgerlich? Ja, die Qualität des Bürgerlichen umfasst das Aufbegehren – den Freisinn, der einst die Revolution für Gleichheit und Freiheit ins Werk setzte, in der Schweiz vor präzis 175 Jahren.

Seither garantiert die offene Gesellschaft, die in zahllosen Kämpfen errungen werden musste, all das, was wir als selbstverständlich betrachten: dass Politik gleichbedeutend ist mit Freiheit, wie Hannah Arendt festhielt – und Meinungsstreit der Kern politischer Kultur.

Bürgerlichkeit bedeutet, jede Erkenntnis argumentativ und autoritätsfrei infrage zu stellen. Denn was heute wahr ist, kann morgen als falsch erkannt werden. Das demokratische Ringen ums Richtige ist radikal – es geht an die Wurzeln des geschichtlichen Geschehens ebenso wie an den Glaubensgehalt des bürgerlichen Alltags.

Demokratisches Ungestüm ist kultivierte Anarchie. Demokratie ist die Ordnung der Unordnung.

Herausgefordert wird sie – von aussen – durch den kriminellen Kriegsherrn im Kreml, ebenso durch den immerzu lächelnden Potentaten aus Peking. Bestritten wird sie – im Innern – durch die linksgrüne Erweckungsbewegung, wesensverwandt dem gescheiterten Marxismus. Das Beharren auf endgültigen Wahrheiten ist das Gegenteil von Anarchie, das Gegenteil von Freisinn, das Gegenteil von Bürgerlichkeit.

Das Nein, das die Uhrmacher von St-Imier den marxistischen Paradies-Predigern entgegenschleuderten, prägte das politische Fühlen und Denken dieser Präzisionshandwerker über Generationen. Ihr Sozialismus war Libertär-Sozialismus – Freiheit und Gleichheit im Sinn von Freisinn. Bürgerlich stolz:

Mit Krawatte am 1.-Mai-Umzug, im Seidenkleid hinter der roten Fahne. Bürger-Anarchos.

Mein Vater Max, meine Mutter Lydia.

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