Marco Solari über die Idee einer Gotthard-Maut
«Cassis wird mit der Faust auf den Tisch hauen!»

Eine Gebühr für den Gotthard? Nicht mit Marco Solari. Ein Gespräch über die Schweiz, das Filmfestival von Locarno – und die Konkurrenz in Zürich.
Publiziert: 02.07.2023 um 00:53 Uhr
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Aktualisiert: 03.07.2023 um 09:52 Uhr
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"Bitte weniger oberflächlich denken!" Mr. Locarno Marco Solari.
Foto: Philippe Rossier

SonntagsBlick: Herr Solari, der Urner Nationalrat Simon Stadler will das Verkehrsproblem am Gotthard mit einer Maut lösen. Warum hat Sie das verärgert?
Marco Solari: Sie können kein Verkehrsproblem mit einer Maut lösen! Die Menschen finden immer Wege, um eine Maut zu umfahren. Das verlagert das Verkehrschaos. Etwas anderes stört mich aber noch viel mehr.

Was genau?
Auch wenn es altmodisch klingt: Es geht um Staatspolitik und die Frage, was unser Land ausmacht. Die Schweiz lebt davon, dass man ohne Grenzen von Genf ins Tessin oder nach Schaffhausen fahren kann. Eine Maut am Gotthard wäre wie eine Grenze innerhalb der Schweiz. Das Thema ist viel zu ernst, um es für politische PR-Zwecke zu missbrauchen.

Herr Stadler will nicht, dass weniger Menschen ins Tessin fahren, sondern dass sie weniger im Stau stehen. Dynamische Preise sollen dafür ein Anreiz sein.
Das wird nicht funktionieren. Und selbst wenn: Warum führen wir dann eine Diskussion über den Gotthard und nicht über die ganze Schweiz? Was ist mit den Staus in Zürich, Bern und Genf? Was ist mit dem Viadukt, das über die Saane führt und den Röstigraben überwindet?

Können Sie nicht verstehen, dass die Urner von der Verkehrsbelastung genervt sind?
Doch, aber trotzdem hat Simon Stadler die Schweiz nicht begriffen. Frank A. Meyer hat in seinem Essay von vier gleichberechtigten Teilen der Schweiz geschrieben. Sie besteht aus vielen subtilen Gleichgewichten. Wenn ein Gleichgewicht gestört wird, gerät das ganze System durcheinander. Mich regt die Diskriminierung des Tessins auf. Warum geht das den Kritikern so leicht über die Zunge?

Was vermuten Sie?
Herr Stadler bedient ein altes Motiv: Der Norden nimmt den Süden zu wenig ernst. Der grosse Lübecker Schriftsteller Thomas Mann hat das Gleiche mit den Bayern gemacht. In Frankreich oder Italien funktioniert das ähnlich. Und leider auch in der Schweiz. Ich sage: Halt – bitte weniger oberflächlich denken! Zumal auch juristische Gründe dagegensprechen. Das Bundesgericht hat das klargestellt. Und auch die EU ist gegen eine Maut, die diskriminiert.

Aber die Zeiten sind doch längst vorbei, wo sich das Tessin diskriminiert fühlen muss. Lugano ist nicht zuletzt ein attraktiver Standort für Banken.
Ich mache mir wirklich Sorgen um die Einheit der Schweiz. Ich beobachte Egoismus und Hedonismus. Ein Teil der Bevölkerung interessiert sich nicht mehr für politische Grundsatzfragen. Ich warte nun auf eine Stellungnahme des Kantons Tessin. Sie wird unmissverständlich sein.

Was erwarten Sie vom Tessiner Bundesrat Ignazio Cassis?
Er wird mit der Faust auf den Tisch hauen! Ich nehme an, dass die sieben Bundesräte weise Frauen und Männer sind, die wissen, wie wichtig das staatspolitische Argument ist. Die Maut-Diskussion wird im Bundesrat nach dreieinhalb Minuten erledigt sein.

Und nach 23 Jahren hören Sie diesen Sommer als Präsident des Filmfestivals auf. Haben Sie Angst vor dem Loslassen?
Es fällt mir schwer, sehr schwer … Doch das Leben besteht aus verschiedenen Phasen. Es gibt die Phase des Lernens, des Lehrens – und schliesslich die kontemplative Phase.

Persönlich

Marco Solari (78) studierte in Genf Sozialwissenschaften und wurde 1972 Tessiner Tourismusdirektor. Er war ­Delegierter des ­Bundesrats für die 700-­Jahr-­Feier der Eidgenossenschaft, Manager bei der ­Migros und von 1997 bis 2004 stellvertretender Konzernchef von Ringier. Seit 2000 ist Solari ­Präsident des Internationalen Filmfes­tivals von Locarno, im Sommer hört er auf.

Marco Solari (78) studierte in Genf Sozialwissenschaften und wurde 1972 Tessiner Tourismusdirektor. Er war ­Delegierter des ­Bundesrats für die 700-­Jahr-­Feier der Eidgenossenschaft, Manager bei der ­Migros und von 1997 bis 2004 stellvertretender Konzernchef von Ringier. Seit 2000 ist Solari ­Präsident des Internationalen Filmfes­tivals von Locarno, im Sommer hört er auf.

Sie haben in Locarno viele Stars getroffen. Welcher war herausragend?
Es gibt viel Mittelmässigkeit unter den Stars. Ich bin kein Esoteriker, aber ich spüre sofort, ob die Schwingungen auf der Piazza Grande zwischen dem Star und dem Publikum funktionieren. Tief beeindruckt hat mich der leider verstorbene Harry Belafonte. Er hat auf der Piazza Grande sechs Minuten lang ausgeführt, worin die Verantwortung der Kunst liegt: Ein Künstler muss sagen, was er tief in sich spürt – unabhängig von allen Konsequenzen. Er erhielt tosenden Beifall.

Viele Stars geben einfach von sich, was beim Publikum gut ankommt.
Genau das möchten wir in Locarno nicht. Wir wollen intelligenten Glamour.

Die grosse alte Dame Locarno!
Wir setzen auf Kultur, nicht auf Mondänität.

Im Gegensatz zum Zurich Film Festival?
Wenn Sie um eine Frau werben, geht Ihnen jeder Konkurrent auf die Nerven. Aber er holt das Beste aus Ihnen heraus. Wenn es das Zurich Film Festival nicht gäbe, müsste man es erfinden.

Welche Stars gehen Ihnen auf die Nerven?
Ich nenne keine Namen. Aber junge Stars kommen oft mit einem Gehabe, das nicht zu Locarno passt. Sie verhalten sich arrogant und überheblich. Das kann ich nicht ausstehen. Wenn jemand mit Starallüren kommt, drehe ich ihm den Rücken zu.

Können Sie sich das wirklich leisten? Auch Locarno lebt von den Stars.
Das stimmt. Stars sind die Währung für Aufmerksamkeit. Im Jahr 2000 waren wir als Festival mäusearm. Wir mussten die Pizza selbst zahlen und zählten jeden Stift. Tony Curtis, der berühmte Schauspieler aus «Manche mögen’s heiss», wollte kommen, verlangte viel, unter anderem zwei First-Class-Tickets und Business-Class-Flüge für sein Team. Ich habe alles getan, um das Geld aufzutreiben, denn zehn amerikanische TV-Sender hatten sich wegen Tony Curtis angemeldet. Es war eine reine Marketing-Überlegung. Trotzdem hat er kurzfristig abgesagt. Die zehn TV-Sender auch.

Von welchem Star hätten Sie gerne die Handynummer?
Stars geben grundsätzlich keine Handynummern heraus. Der künstlerische Direktor hat die Handynummern von Agenten.

Und wenn die Chemie stimmt?
Als Festivalpräsident muss ich mich um die Sponsoren und ihre Gäste kümmern. Ich habe ein paar Sekunden mit den Stars. Für mehr reicht die Zeit leider nicht.

Die Handynummer des scheidenden Kultur-Bundesrats Alain Berset haben Sie aber, oder?
Ja (lacht)! Er hat von Anfang an seine schützende Hand über uns gehalten. Auch in der Zeit, als ihm National- und Ständeräte aus Kantonen die Tür einrannten, die ebenfalls ein Festival haben. Berset hat zu uns gesagt: Ihr dürft mich nicht enttäuschen, Locarno muss eine erstklassige Kulturveranstaltung bleiben – mit Betonung auf Kultur. Locarno braucht Feu sacré. Deswegen sage ich zu meinem Team: Wir können uns niemanden leisten, der das Festival als Amüsement sieht. Wir brauchen beinharten Einsatz.

Lassen Sie uns raten: Für Sie steht Alain Berset für intelligenten Glamour?
Absolut. Er beherrscht das perfekt.

Wer im Bundesrat wird diese Lücke füllen?
Ich weiss es nicht (lacht).

Was haben Sie sich für die Zeit nach dem Filmfestival vorgenommen?
Ich werde eine Art Autobiografie schreiben – mit dem Tessin im Zentrum. Ich will kein Buch schreiben, das Menschen in einem Nebensatz verletzt. Aber ich werde wohl manche enttäuschen, die nicht darin vorkommen.

Welches Geheimnis werden Sie lüften?
Ein Geheimnis zu wahren, ist ein Akt der Eleganz. Es ist wichtig, dass man verzeihen kann, aber nicht unbedingt vergessen muss.

Wem verzeihen Sie?
Der Satz eines sterbenden englischen Königs hat mir imponiert: Ich bitte alle um Verzeihung und ich verzeihe allen.

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