Ich sah sie schon durch den Schlitz. Da steckte eine Postkarte in meinem Briefkasten. Seit Corona freue ich mich noch viel mehr über die kleinen Dinge im Leben – wobei ich eine gedruckte, verschickte Nachricht von einem lieben Menschen im 21. Jahrhundert wahrlich nicht als Kleinigkeit bezeichnen würde.
Vorne drauf ein Foto einer jungen Frau. Einer fremden jungen Frau. Hmm, ist das vielleicht jetzt ein solcher Moment, in dem gleich die heimliche Affäre meines Partners auffliegt und sich mein Leben von der einen auf die andere Sekunde verändern wird? Nein, der Pöstler hatte sich vertan – oder er hatte einfach genug von all den vielen Sendungen, die er tagtäglich befördern muss, dass er einfach bloss froh war, die Karte irgendwo in Zürich einzuschmeissen. Die Adresse auf der Karte passt nämlich überhaupt nicht zu meiner.
Es liegt exakt ein Kilometer dazwischen.
Die Karte ist für eine Sandra. Von einer Sarah. Die Absenderin schreibt, dass sie Mexiko geniesst, Vulkane erklimmt und ganz viele Tacos isst. Es fühlt sich falsch an, die nicht für mich bestimmten Worte zu lesen, natürlich tu ich es dennoch. Sarah will gerne noch bleiben und mag nicht ans Heimkommen denken, freut sich aber, mit Sandra im Sommer «Bierli» an der «Zürisunne» zu trinken. Und beendet die postalische Nachricht mit «Besitos Sarah». Schöne Geste, dachte ich. Aber nicht für mich.
Ein paar Tage später klemmte wieder eine Karte im Briefkasten. Dieses Mal war keine Frau darauf, sondern ein Spruch. Auf D'english. «You are very first cream» – «Du bist allererste Sahne». Ich musste schmunzeln. Schrieb ich doch letzte Woche an dieser Stelle darüber, dass ich gerne Redewendungen und Sprichwörter eins zu eins übersetze. Ich drehte die Karte um – und siehe da: Dieses mal war sie für mich! Eine sehr liebe Freundin musste bei der Karte an mich denken und findet, sie treffe «the nail on the head».
Das ist keine Kleinigkeit, das ist Freundschaft.
So, und ich schwing mich jetzt aufs Velo und fahre zu Sandra, um ihr die Grüsse aus Mexiko zu überbringen.