Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Die Hoffnung stirbt zuletzt

Lasst die Korken knallen! Denn erst die radikale Hoffnung, dass alles gut kommt, lässt uns gemäss dem amerikanischen Philosophen Jonathan Lear angstfrei in die Zukunft schreiten.
Publiziert: 27.12.2020 um 13:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2021 um 18:01 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Die Erwartungen sind gross, dass auf dieses verkorkste Jahr ein besseres folgen möge: eines mit Corona, das nur noch in Bierflaschen vorhanden ist; eines mit Donald, der nur noch als Comicfigur aus Entenhausen lächerlich wirkt; eines mit Klimaerwärmung, die nur noch als Beschreibung der zwischenstaatlichen Beziehungen Schlagzeilen macht. Zugegeben: Letzteres ist eine radikale Hoffnung.

«Radikale Hoffnung» heisst das Buch des amerikanischen Philosophen und Psychoanalytikers Jonathan Lear (72). Im englischsprachigen Raum ist es bereits ein Standardwerk, denn Lear veröffentlichte das Original 2006. Erst jetzt erscheint es auf Deutsch, aber passt perfekt zur Zeit. «Wir nehmen notwendigerweise an einer Lebensweise teil, die sich in einer Kultur äussert», schreibt Lear darin. «Doch unsere Lebensweise – worin auch immer sie bestehen mag – ist auf viele Arten verletzlich.»

Verletzt, ja zerstört ist die Kultur des nordamerikanischen Stamms der Crow, dessen Geschichte Lear zu diesem Buch veranlasste: Im 19. Jahrhundert wiesen die Vereinigten Staaten diesen Ureinwohnern ein Reservat im Süden Montanas zu. «Das Jagen wurde unmöglich, einerseits weil alle Biber und Büffelherden getötet worden waren und andererseits weil es den Crow nun verboten war, ein nomadisches Leben zu führen», schreibt Lear. «Auch die Sterblichkeitsrate war verheerend hoch.»

Angst und Schrecken nahmen von den Menschen Besitz, doch der Stammeshäuptling Plenty Coups (1848–1932) hatte einen Traum von weissen, gefleckten Kühen, die aus einem Loch kamen. «Plenty Coups’ Traum könnte als göttlicher Aufruf aufgefasst worden sein, das traditionelle ethische Leben aufzugeben», schreibt Lear. «Um zu überleben – und einst vielleicht wieder zu gedeihen –, mussten die Crow bereit sein, nahezu alles aufzugeben, was sie vom guten und gelingenden Leben verstanden.»

Ein radikales Ende für einen radikalen Neubeginn: Ist das nicht fatalistisch? Sitting Bull (1831–1890), der Häuptling der mit den Crow verfeindeten Sioux, sah das so. Doch Lear zitiert Plenty Coups: «Wir trafen unsere Entscheidung nicht etwa, weil wir den weissen Mann liebten und auch nicht weil wir die Sioux, Cheyenne und Arapaho hassten, sondern weil wir schlicht und einfach einsahen, dass nur dieses Vorgehen uns womöglich unser wunderschönes Land erhalten konnte.»

Plenty Coups wurde Farmer, betrieb einen Laden, machte Politik in Washington – und er ermunterte seine Stammesangehörigen, es ihm gleichzutun. «Obwohl er also für eine neue Lebensweise der Crow eintrat, schöpfte er dabei auf lebendige Weise aus der Vergangenheit», schreibt Lear. «Wie ich es daher sehe, spricht vieles dafür, dass Plenty Coups den Crow einen traditionellen Weg nach vorne eröffnet hat.» Und im Vorwort der Übersetzung wendet sich Lear explizit an die deutschsprachigen Leser: «Es gibt ein Danach nach dem ‹Danach ...›» Wenn das mal nicht eine radikale Hoffnung ist.

Jonathan Lear, «Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung», Suhrkamp

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