Vor ein paar Wochen besprach ich in dieser Kolumne das Sachbuch «Selbstverteidigung» der französischen Philosophie-Professorin Elsa Dorlin (46). Sie wehrt sich darin gegen die Zuschreibung der Opferrolle an Frauen und befürwortet stattdessen Selbstverteidigung. «Wenn die Beute auf die Jagd geht, wird sie nicht ihrerseits zum Jäger», schreibt sie. «Sie verteidigt sich aus der Not heraus.»
Gewalt, die Gegengewalt auslöst. Dem hält nun die US-amerikanische Philosophie-Professorin Judith Butler (64) von der renommierten Berkeley University ihr neues Buch «Macht der Gewaltlosigkeit» entgegen. Nicht etwa, indem sie zur christlichen Duldsamkeit aufruft, viel radikaler: Sie fordert quasi die Abschaffung der Geschlechterunterscheidung. Denn die Unterscheidung schaffe Ungleichheit, die ihrerseits das Fundament für Gewalt sei.
Schon in ihrem Standardwerk «Das Unbehagen der Geschlechter» (1990) propagiert Butler die genderneutrale Betrachtung – Geschlechterrollen seien bloss kulturell herbeigeredet. Viel Freund und Feind schuf sich Butler mit dieser Position. Doch sie bewegte gesellschaftlich einiges: In verschiedenen Ländern wie etwa in Deutschland ist es heute erlaubt, im Reisepass bei der Angabe zum Geschlecht ein X einzutragen, das für unbestimmt, divers steht.
«Die meisten Formen der Gewalt sind der Ungleichheit verpflichtet, ganz gleich, ob das offen thematisiert wird oder nicht», schreibt Butler nun im neuen Buch. Und sie meint hier nicht bloss Ungleichheit durch Sexismus, sondern auch durch Rassismus. Ja, sie fasst gar die Ungleichheit zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben ins Auge. Denn so Butler: «Das Gedeihen menschlichen Lebens ist auch an das anderer Lebewesen gebunden.» Menschliches und nicht-menschliches Leben stünden als Lebensprozesse miteinander in Beziehung.
«Tatsächlich hat die politische Verteidigung der Gewaltlosigkeit ohne eine Verpflichtung auf Gleichheit keinen Sinn», so Butler. Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, betrachtet sie alles Leben auf Erden vom Ende her und führt den von ihr kreierten Begriff der «Betrauerbarkeit» ins Feld: Weshalb trauern wir über den Tod eines Lebewesens mehr als über den eines anderen? Weshalb gibt es da ein Staatsbegräbnis und dort spricht man bei einem kriegerischen Massenmord von «Kollateralschaden»?
Gerade Krieg lege die Problematik des sehr ambivalenten Begriffs Selbstverteidigung offen, so Butler, denn die militärische Form der Aussenpolitik rechtfertige jeden Angriff als Selbstverteidigung. Für die Philosophin gibt es aber keinen gerechtfertigten Mord. «Was wir als ‹radikale Gleichheit der Betrauerbarkeit› bezeichnen könnten, liesse sich als demografische Voraussetzung einer Ethik der Gewaltlosigkeit verstehen, die keine Ausnahmen kennt», schreibt Butler. Und plötzlich kriegt das Aussterben von Insekten dasselbe Gewicht wie der Tod eines Präsidenten.
Judith Butler, «Die Macht Gewaltlosigkeit – über das Ethische im Politischen», Suhrkamp