«I can’t breathe!» (ich kann nicht atmen!): Dieser flehende Ruf des Afroamerikaners George Floyd (†46) aus Minneapolis (USA) geht am 25. Mai dieses Jahres um den Globus. Ein bewaffneter weisser Polizist kniet auf dem Hals des wehrlos am Boden liegenden Schwarzen, eine Stunde später stirbt dieser im Spital. Der Fall sorgt weltweit für Empörung und gibt der «Black Lives Matter»-Bewegung (Schwarze Leben zählen) neuen Schwung: Überall kommt es zu Demonstrationen.
Der bewaffnete Weisse, der wehrlose Schwarze: Dieses Muster besteht seit der Zeit der Sklaverei, wie die französische Philosophie-Professorin Elsa Dorlin (46) in ihrem neuen Buch «Selbstverteidigung» ausführt. «In der gesamten Zeit der Sklaverei ist die Entwaffnung der Sklaven mit einer regelrechten Disziplinierung der Körper verbunden, um die Wehrhaftigkeit aufrechtzuerhalten», schreibt sie, «was die Unterdrückung der kleinsten kämpferischen Geste erfordert.»
Dorlin zeigt auf, wie früh in der Geschichte das Waffentragen ein Vorrecht des Adels ist, ab dem 15. Jahrhundert durch die Bildung von Berufsarmeen allmählich zum Staatsmonopol wird, aber immer ein Mittel zur Unterdrückung der Mehrheit bleibt. «Die Möglichkeit, sich zu verteidigen, ist das ausschliessliche Privileg einer herrschenden Minderheit», so Dorlin. Das eröffnet Machtmissbrauch Tür und Tor, was sie mit unsäglichen Beispielen von Lynchjustiz an Schwarzen in den USA belegt.
«Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar»: Diesem Bibelzitat redet Dorlin nicht das Wort. Ganz im Gegenteil, denn sie verabscheut die Opferrolle, weil sie nur alte Denkmuster fortschreibt, etwa bei Kampagnen gegen häusliche Gewalt an Frauen. «Indem sie meist eine Frau zeigen oder, genauer gesagt, indem sie systematisch weibliche Körper vergegenständlichen, die als Opfer inszeniert werden, schreiben diese Kampagnen die Verletzbarkeit als unweigerliche Zukunft einer jeden Frau fort», schreibt Dorlin.
Wie es anders gehen kann, legt Dorlin gegen Schluss im Kapitel «Phänomenologie der Beute» dar. Dort thematisiert sie den umstrittenen Roman «Schmutziges Wochenende» (1991) der britischen Schriftstellerin Helen Zahavi (54): Die Hauptfigur – die schöne Bella (!) – entspricht dem Beuteschema ihres Nachbarn, der Jagd auf sie macht. Doch an einem Freitagabend ist sie es leid, immer nur Opfer zu sein, greift zum Hammer, dringt beim Vergewaltiger ein, zertrümmert ihm den Schädel und lässt ihn in einer Blutlache sterben.
Diese Umkehr der Rollen führte schon vor der Veröffentlichung des Romans zu Kontroversen: Eine unmoralische, extrem gewalttätige und pornografische Brandschrift sei das, schimpfte die britische Presse. Und der Autorin Zahavi unterstellte man, geisteskrank zu sein. Dorlin hält dem nun in «Selbstverteidigung» entgegen. «Wenn die Beute auf die Jagd geht, wird sie nicht ihrerseits zum Jäger», schreibt sie. «Sie verteidigt sich aus der Not heraus.»
Elsa Dorlin, «Selbstverteidigung – eine Philosophie der Gewalt», Suhrkamp