«Uf Mueters Seel, wo hüt furt isch vo dr Ärde …», singt Patent-Ochsner-Frontmann Büne Huber (58) im grossartigen Lied «Für immer uf di». Nachdem meine Mutter vor ein paar Wochen verstorben war, hörte ich das Stück immer wieder an – es spendete mir Trost. Doch nach der Lektüre des neuen Sachbuchs «Die digitale Seele» kommen mir Zweifel, ob unsere Seelen die Erde je verlassen können.
Meine Mutter war eine alte Frau, hatte kein Handy und war nicht auf Facebook – und trotzdem ergibt die Google-Suche nach ihrem Namen eine Handvoll Ergebnisse. Bei meinem Namen sind es schon Tausende, bei Roger Federer Millionen. «Wir alle hinterlassen unvorstellbare Mengen an Daten in Messengern, Clouds und sozialen Netzwerken», schreiben die beiden deutschen Sachbuch-Autoren Moritz Riesewieck (35) und Hans Block (35). Und diese Daten lassen uns mit künstlicher Intelligenz (KI) weiterleben.
Preisgekrönte Filmregisseure sind die beiden (Grimme-Preis 2019 für ihren Dokumentarfilm «The Cleaners» über die Schattenindustrie digitaler Zensur in Manila), und für ihr erstes gemeinsames Buchprojekt reisten sie um die Erde: Im ersten Teil «Begegnungen» schildern sie Treffen mit Menschen hinter dem Traum digitaler Unsterblichkeit; im zweiten Teil «Betrachtungen» richten sie ihr Augenmerk auf Hirnforschung, Philosophie, Kunst- und Kulturgeschichte zum Thema. Es geht nie um Esoterik, sondern um aktuelle Entwicklungen der KI.
Da ist der US-Amerikaner James Vlahos, der alle Daten seines krebskranken Vaters sammelt, um nach dessen Tod über einen Chatbot mit ihm reden zu können; da ist der Rumäne Marius Ursache, der mit seinem Start-up eine App entwickelt, mit der man Daten eines Verstorbenen aus dem Internet aufsaugen kann; und da ist die Südkoreanerin Jang Ji Sung, die mit solchen Daten ihre Jahre zuvor verstorbene Tochter in einem neunminütigen Youtube-Video auferstehen lässt.
«Eine Revolution wird kommen, das ist sicher», zitieren die beiden Autoren die kalifornischen Software-Entwickler Gordon Bell und Jim Gemmell, «und nach und nach werden sich die Menschen überall auf der Welt an ihr beteiligen – sie werden immer mehr von ihrem Leben aufnehmen und speichern.» Unsere Seele kommt so nach dem Ableben nicht in den Himmel, sondern in die Cloud, um dort ewig weiterzuleben. Die University of Oxford rechnet damit, dass auf Facebook in fünfzig Jahren mehr Accounts von Toten als von Lebenden sein werden.
Die Menschen sind immer säkularer, gleichzeitig streben sie vermehrt digitale Unsterblichkeit an – eine paradoxe und unheimliche Entwicklung. «Aber was ist es eigentlich, das uns so anfällig macht für den Irrglauben, mehr wäre mehr: mehr Lebenszeit gleich mehr Optionen gleich mehr Glück?», fragen die Autoren kritisch und verweisen darauf, dass vor allem Männer dem Traum vom ewigen Leben nachhängen. Weil sie kein Leben gebären können?
Moritz Riesewieck/Hans Block, «Die digitale Seele – unsterblich werden im Zeitalter Künstlicher Intelligenz», Goldmann