So läuft ein Tag in der Notschlafstelle ab
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Obdachloser Juan (20) erzählt:So läuft ein Tag in der Notschlafstelle ab

Der obdachlose Juan (20) über sein Leben in der Notschlafstelle
«Es ist kein Zuhause, aber es ist ein Wohlfühlort»

Wie viele Jugendliche in der Schweiz obdachlos sind, ist unklar. In der Notschlafstelle Nemo in Zürich finden einige aber mehr als ein Dach über dem Kopf. Ein Betroffener hat Blick auf einen Rundgang mitgenommen und über seine Wohnsituation erzählt.
Publiziert: 04.02.2024 um 11:55 Uhr
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Aktualisiert: 05.02.2024 um 10:47 Uhr
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Die Notschlafstelle Nemo in Zürich ist in einem ehemaligen Pfarrhaus. Hier finden Jugendliche und junge Erwachsene in Krisensituationen neben einem Dach über dem Kopf auch Unterstützung.
Foto: CTF
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Corine Turrini FluryRedaktorin Wohnen

In einem ehemaligen Pfarrhaus mit grosszügigem Garten in Zürich befindet sich die Notschlafstelle Nemo. Sie bietet Übernachtungsmöglichkeiten für Jugendliche ab 16 und junge Erwachsene bis 23 Jahren mit gültiger Schweizer Aufenthaltsbewilligung. Sie können hier für eine Nacht oder bis zu maximal drei Monaten übernachten.

Aktuell sind sieben junge Menschen im Nemo. Drei junge Frauen und vier Jungs. Einer von ihnen ist der 20-jährige Juan*. Seit drei Wochen schläft er hier. Er ist als Einziger noch anwesend an diesem Vormittag, neben der Leiterin Darja Baranova und einer Sozialarbeiterin. Bis um neun Uhr war er in einem freiwilligen Beratungsgespräch. Für das Gespräch mit Blick darf er im Haus bleiben.

Warme Atmosphäre und Privatsphäre

Mit freundlichem Lachen und Händedruck stellt sich Juan vor. Er übernimmt auch gleich die Führung durch das Haus und erklärt die Regeln. Tagsüber ist ausser den Mitarbeiterinnen niemand im Haus. Erst ab 17 Uhr ist Einlass im Nemo. «Zuerst muss man sich die Hände waschen und sich im Büro im Erdgeschoss anmelden», erklärt er.

Im Erdgeschoss befinden sich die grosse Küche und das Wohnzimmer mit Ausgang zum Garten und das offene Esszimmer mit einem grossen Esstisch. Alles wirkt aufgeräumt, sauber und gemütlich. Insgesamt eine einladende, warme Atmosphäre. Im oberen Stockwerk sind zwei Dreibett-Schlafzimmer und ein Schlafzimmer mit zwei Betten. In allen Zimmern ist noch ein Klappbett für Notfälle. Die jungen Frauen und Männer schlafen getrennt und haben je ein eigenes Badezimmer. «Die Zimmer werden nicht einfach betreten, sondern es wird angeklopft. Die Privatsphäre von allen wird respektiert», erklärt Juan.

Was auffällt: Keines der Betten ist angezogen. Jeden Morgen muss jeder sein Bett abziehen und am Abend frisch beziehen, weil niemand ein fix zugeteiltes Bett hat und sich die Konstellation der Personen im Haus täglich ändern kann.

Kindheit ohne elterliche Fürsorge

Im Untergeschoss ist die Waschküche und ein Raum, wo alle ihre Habseligkeiten während des Aufenthalts aufbewahren können, sowie ein Fundus an sauberen, teilweise neuen gespendeten Kleidern und Schuhen, die bei Bedarf genutzt werden können. Zudem hat es abschliessbare Spinds für persönliche Sachen, für Personen, die länger als drei Tage im Nemo sind. Juans Habseligkeiten sind in einem kleinen Plastiksack. Etwas an Kleidern sei noch bei seiner Ex-Freundin, mit der er sich noch immer gut verstehe.

Im Wohnzimmer erzählt Juan offen von seinem Leben und wie er obdachlos wurde. Ein richtiges Zuhause hatte er nie. Die tragische Lebensgeschichte des erst 20-Jährigen bietet Stoff für ein Buch. Kalter Entzug als neugeborenes Baby einer heroinabhängigen Mutter, die früh verstarb, nach der Geburt die ersten Jahre Platzierung in einem Babyheim.

Bis zur rebellischen Teenagerzeit lebte er ländlich in einer Pflegefamilie im Kanton Zürich. Grosseltern oder andere Verwandte kennt Juan nicht. Fotos aus seiner Kindheit hat er nicht. Schon als Kind, bekam er zu spüren, dass er anders ist – ein Aussenseiter. Eltern von Schulkollegen im Dorf wollten ihre Kinder fernhalten vom verhaltensauffälligen Jungen, der früh in der Stadt mit Älteren aus dem Drogenmilieu verkehrte und auf die schiefe Bahn geriet.

Heimaufenthalte bis zum geschlossenen Massnahmenvollzug

«Niemand interessierte sich dafür, warum ich so war», sagt Juan, der manchmal auch die harte Hand des Pflegevaters zu spüren bekam, bis er sich als Teenager wehrte. «Als die Situation in der Pflegefamilie eskalierte, kam ich ins nächste Heim und landete schliesslich im geschlossenen Massnahmenvollzug», erzählt Juan. Dort hat er eine handwerkliche Lehre absolviert.

Sichtbar auf Juans Körper sind mehrere Narben von einer Messerstecherei im Jugendalter, unsichtbar die Narben seiner Seele. Juan möchte anonym bleiben, weil er mit seiner Vergangenheit, geprägt von Drogen, Gewalt und Kriminalität, sowie den negativen Kontakten aus dieser Zeit abgeschlossen hat – auch mit seinem leiblichen, drogenabhängigen Vater.

Das sieht er nach Verbüssung einer Massnahme im geschlossenen Massnahmenzentrum und eindringlichen Worten des Richters als Chance, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Er ist auf Bewährung in Freiheit und weiss: Als junger Erwachsener würde er bei einem weiteren Delikt für Jahre im Gefängnis sitzen. Das will Juan verhindern. Er ist freiwillig in einem Jobprogramm und steht in regelmässigem Austausch mit Sozialarbeitenden und sozialpädagogischen Fachpersonen im Nemo, die ihn in seinen Bemühungen unterstützen.

Juan fühlt sich wohl im Nemo, sowohl in der momentanen Gruppe als auch mit den Mitarbeitenden im Haus. Juan: «Es ist kein Zuhause, aber es ist ein Wohlfühlort». Hier erlebt er Wertschätzung, fühlt sich sicher, verstanden und kann zur Ruhe kommen. Der psychische Stress der Strasse mit der täglichen Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit entfällt.

Notschlafstelle mit Unterstützung als Zwischenlösung

Ein dauerhaftes Zuhause ist das Nemo nicht, sondern eine Zwischenlösung, bis eine Anschlusslösung wie zum Beispiel ein Platz in einer betreuten Wohngruppe gefunden ist. «Etwas mehr Privatsphäre in einem eigenen Zimmer, das ich selber gestalten kann, wäre schön», sagt Juan. Er ist froh und dankbar, dass er Hilfe gesucht und Unterstützung gefunden hat. Trotz seiner schwierigen Vergangenheit ist er motiviert, schaut mit Optimismus in die Zukunft und möchte anderen Mut machen, rechtzeitig Hilfe anzunehmen. «In der Schweiz gibt es Möglichkeiten für Unterstützung, wenn man kooperiert und Hilfe annimmt», weiss er.

Noch lebt Juan von der Sozialhilfe. Auch das will er ändern. Juan muss los und macht sich auf den Weg zu «Streetchurch», wo er sich mit der Teilnahme am Berufsvorbereitungsprogramm mit Unterstützung fit für seine berufliche Zukunft macht. «Danke, dass ihr Menschen wie mir eine Stimme gebt», sagt der 20-Jährige im Kapuzenpullover zum Abschluss, bevor er gegen Mittag geht. Am Abend wird er wieder ins Nemo kommen, mit der Gruppe essen und eines der freien Betten im Zimmer der Jungs beziehen.

* Name der Redaktion bekannt

Wohnungsnot bei Notschlafstellen bemerkbar

Genaue Zahlen zu obdachlosen Menschen in der Schweiz fehlen. Geschätzt wird die Zahl betroffener Menschen gemäss einer Studie der Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz auf 2200. Darunter sind 18 Prozent junge Obdachlose zwischen 18 und 25 Jahren ohne ein Zuhause, was etwa 420 junge Menschen ausmacht. Die Dunkelziffer dürfte aber erheblich höher sein.

2022 zählte allein die Notschlafstelle Nemo 161 Jugendliche. Die Notschlafstelle bietet Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Notsituationen Obdach, Schutz und Sicherheit und soll jungen Menschen die Chance geben, ihre gesundheitliche und gesellschaftliche Situation zu verbessern. Neben Beherbergung und Verpflegung können junge Menschen das Angebot der internen Sozialberatung in Anspruch nehmen und werden begleitet bei der Suche nach geeigneten Anschlusslösungen. Die Wohnungsnot macht sich aber auch hier bemerkbar. «Die letzten Monate waren wir voll belegt», sagt die Leiterin und Sozialmanagerin Darja Baranova. Dennoch finden sich im Notfall Möglichkeiten, dass niemand im Nemo abgewiesen werden muss.

Seit Mai 2022 ist in Bern mit Pluto eine Notschlafstelle für 14- bis 23-Jährige in Betrieb. Neben kostenlosen Übernachtunsmöglichkeiten, sowie Verpflegung finden auch im Pluto junge Menschen in Notsituationen Beratung und Unterstützung.

Genaue Zahlen zu obdachlosen Menschen in der Schweiz fehlen. Geschätzt wird die Zahl betroffener Menschen gemäss einer Studie der Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz auf 2200. Darunter sind 18 Prozent junge Obdachlose zwischen 18 und 25 Jahren ohne ein Zuhause, was etwa 420 junge Menschen ausmacht. Die Dunkelziffer dürfte aber erheblich höher sein.

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