«Ich sehe das Leben heute intensiver und genauer»
2:41
In den letzten 10 Jahren:Kewan erzählt, wie sie zwei Krebserkrankungen überlebt hat

Ein zweites Leben geschenkt
Drei Menschen erzählen von ihrer Auferstehung

Eine Krebsdiagnose, ein schwerer Sturz, eine Herz-OP – in diesen Momenten verändert sich das Leben für immer. Tanja, Bendicht und Andreas standen an der Schwelle zum Tod. Doch sie fanden zurück ins Leben und sprechen über ihren Weg dahin.
Publiziert: 00:28 Uhr
|
Aktualisiert: 12:12 Uhr
1/5
Schon in jungen Jahren mit dem Tod konfrontiert: Gleich zwei Mal ist Tanja Kewan an Krebs erkrankt.
Foto: Kim Niederhauser

Darum gehts

  • Drei Menschen erzählen von ihrer persönlichen Auferstehung nach lebensbedrohlichen Erlebnissen
  • Tanja betet regelmässig nach ihrer zweiten Krebsdiagnose, Andreas findet seit Aortariss Halt bei seinem Hund
  • Bendicht hatte sich das Genick gebrochen und erlebte eine Nahtoderfahrung
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
RMS_Portrait_AUTOR_265.JPG
Katja RichardRedaktorin Gesellschaft

Wer einmal fast gestorben ist, lebt anders. Manchmal vorsichtiger. Oft entschlossener. Fast immer mit einem klareren Blick für das, worauf es wirklich ankommt. Tanja, Bendicht und Andreas haben erlebt, was es bedeutet, ein zweites Leben geschenkt zu bekommen. Zu Ostern erzählen sie von ihrer ganz persönlichen Auferstehung.

Tanja Kewan (34) – «Ich sehe die Welt wieder mit den Augen eines Kindes»

Mit ihrer Tochter Arwa: Die Achtjährige ist Tanjas Grund, das Leben zu feiern.
Foto: Kim Niederhauser

«Wenn du eine vier Wochen alte Tochter hast, willst du dich nicht mit dem Sterben auseinandersetzen», erzählt Tanja Kewan (34). Aber ihr blieb keine Wahl. Bereits zum zweiten Mal in ihrem jungen Leben wurde sie vor acht Jahren mit der Diagnose Krebs konfrontiert: Diesmal war es Leukämie.

Für die Hochdosis-Chemotherapie musste sie im Inselspital Bern dreimal für mehrere Wochen in Isolation. «Die Therapie ist eine der härtesten in diesem Bereich», sagt sie. «Das Immunsystem wird komplett auf null gefahren, man hat keine Abwehrkräfte mehr. Viele Patienten sterben an den Folgen der Chemotherapie.» Als Fachfrau Gesundheit arbeitete Tanja zuvor auf der onkologischen Abteilung – also ausgerechnet dort, wo sie als Patientin landete. Während der ersten vier Wochen der Behandlung blieb ihre Mutter bei ihr und dem Baby im Isolationszimmer. Für die nächsten Chemo-Behandlungen musste sie sich von ihrer kleinen Tochter trennen. Sie wurde vorübergehend in einer Pflegefamilie betreut, ihre Mutter musste wieder arbeiten – und ihr Mann auch. «Ich hatte solche Angst, dass ich den ersten Geburtstag meiner Tochter nicht mehr erleben würde», gesteht Tanja. Die Angst, sterben zu müssen, kannte sie schon von ihrer Brustkrebserkrankung. «Ich hatte mir so viel vorgenommen für mein Leben, die Vorstellung, dass ich schon von dieser Welt gehen muss, war unerträglich.»

Beten und Meditieren

Heute begleitet Tanja für die Krebsliga Betroffene: «Es hilft, Sorgen und Ängste mit jemandem zu teilen, der Ähnliches erlebt hat.»
Foto: Kim Niederhauser

Eine grosse Stütze war auch Tanjas Mann, er stammt aus Ägypten. Eigentlich wollte das junge Paar nach der standesamtlichen Trauung in der Schweiz dorthin auswandern und nochmals mit der ganzen Familie Hochzeit feiern – ihr märchenhaftes Brautkleid hat Tanja aber nie getragen. Die grosse Feier fiel wegen der Brustkrebsdiagnose ins Wasser, sie war damals erst 21 Jahre alt. «Eines Tages, als ich nur noch am Weinen war, hat mich mein Mann zuerst in den Arm und dann mit ins Badezimmer genommen. Wir haben uns gewaschen und dann zusammen gebetet. Er ist Muslim. Er sagte nur: Sprich mir einfach nach. Danach fühlte ich mich ruhig und entspannt.» Seither betet Tanja regelmässig, bei der Leukämie-Diagnose sogar fünfmal am Tag, «so, wie es Muslime tun». Konvertiert ist sie nicht, ihr geht es nicht um eine bestimmte Religion. «Für mich gibt es etwas Grösseres, etwas, das wir zwar nicht sehen können, aber da ist. Daran kann ich mich festhalten. Für mich ist das wie eine Meditation, ich fokussiere mich aufs Positive.»

Mit ihrer Familie feiert Tanja Ramadan, genauso wie Weihnachten und Ostern. «Es geht dabei weniger um Religion als um die kulturelle Tradition, die mein Mann und ich unserer Tochter mitgeben.» Das wichtigste Fest im Jahr ist der Geburtstag ihrer Tochter. «Sie ist jetzt acht Jahre alt, an diesem Tag feiern wir das Leben. Ich bin einfach dankbar und glücklich, dass ich hier sein kann», sagt sie. Seit Tanja an der Schwelle zum Tod gestanden habe, erlebe sie alles viel bewusster, sei es die Begegnung mit anderen Menschen, eine blühende Blume oder der Sternenhimmel: «Es ist alles intensiver, so, als ob ich die Welt nochmals mit den Augen eines Kindes sehen würde.»

Religionswissenschaftlerin über Ostern: «Das Leben hat mehr Kraft als der Tod.»

Ostern ist mehr als ein religiöses Fest. «Es steht für die Kraft, weiterzugehen – selbst wenn man glaubt, es sei vorbei», erläutert die Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens. Die Auferstehung Jesu sei ein starkes Symbol, auch für Menschen, die nicht gläubig sind: «Jemand leidet, stirbt – und trotzdem ist das nicht das Ende. Das Leben hat mehr Kraft als der Tod.» Das lässt sich auf existenzielle Einschnitte im Leben durch einen Unfall oder eine schwere Krankheit übertragen. «Die Auferstehung ist ein starkes Bild dafür, dass selbst aus dramatischen Einschnitten, aus Schmerz, Verlust und Verletzung neue Kraft entstehen kann», so Lüddeckens.

Wer wie Tanja, Bendicht oder Andreas eine solche existenzielle Erschütterung erlebt, bleibt nicht unversehrt. Aber manchmal entsteht aus dem dramatischen Bruch ein neues Leben. Lüddeckens: «Nicht, weil das Schwere überpinselt wird – sondern weil man gerade durch das Leid eigene Ressourcen entdeckt und aus ihnen schöpfen kann.» In diesem Widerstand gegen das Ende, im Trotz gegen den Tod liegt vielleicht das tiefste Versprechen von Ostern: dass es weitergeht. Anders. Aber weiter.

Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens über Auferstehung und Ostern.
Philippe Rossier

Ostern ist mehr als ein religiöses Fest. «Es steht für die Kraft, weiterzugehen – selbst wenn man glaubt, es sei vorbei», erläutert die Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens. Die Auferstehung Jesu sei ein starkes Symbol, auch für Menschen, die nicht gläubig sind: «Jemand leidet, stirbt – und trotzdem ist das nicht das Ende. Das Leben hat mehr Kraft als der Tod.» Das lässt sich auf existenzielle Einschnitte im Leben durch einen Unfall oder eine schwere Krankheit übertragen. «Die Auferstehung ist ein starkes Bild dafür, dass selbst aus dramatischen Einschnitten, aus Schmerz, Verlust und Verletzung neue Kraft entstehen kann», so Lüddeckens.

Wer wie Tanja, Bendicht oder Andreas eine solche existenzielle Erschütterung erlebt, bleibt nicht unversehrt. Aber manchmal entsteht aus dem dramatischen Bruch ein neues Leben. Lüddeckens: «Nicht, weil das Schwere überpinselt wird – sondern weil man gerade durch das Leid eigene Ressourcen entdeckt und aus ihnen schöpfen kann.» In diesem Widerstand gegen das Ende, im Trotz gegen den Tod liegt vielleicht das tiefste Versprechen von Ostern: dass es weitergeht. Anders. Aber weiter.

Bendicht Luginbühl (69) – «Wer sich das Genick bricht, stirbt meistens sofort daran»

Bendicht Luginbühl gehört zu den wenigen, die einen Genickbruch überlebten und wieder auf die Beine kamen.
Foto: Scott Murray

«Wenn der Pfarrer bei dir am Spitalbett erscheint, dann weisst du, dass du tatsächlich nahe am Ende angelangt bist», erzählt Bendicht Luginbühl. Gut drei Jahre ist es her, seit er mit einem gebrochenen Genick im Inselspital Bern lag. Der Unternehmensberater gilt als Pionier der Schweizer Mountainbikeszene. Biken abseits der Strassen, in der freien Natur, das ist seit Jahren die grosse Leidenschaft des langjährigen Medienprofis: «Ich bin gerne Grenzgänger. Bikes tragen mich hinweg, in neue Welten. Adrenalin, Stille, der eigene Atem und der Duft der Natur – das ist für mich Freiheit.» Zum Verhängnis wird ihm eine grobe Haselrute, die ihm während eines Absprungs ins Gesicht schlägt. Zwei, drei, vier, fünf Sekunden lang sieht er nichts, das Vorderrad prallt zuerst auf, bleibt stecken, er fliegt mit Wucht über den Lenker.

Kaum Angst – tiefe Dankbarkeit

«Wer sich das Genick bricht, stirbt meistens sofort daran», erklärt Bendicht. Der Tod ereilt einen sofort, die Muskeln lassen in Millisekunden los, die Gelenke verheddern sich, man fällt komplett in sich zusammen. «So hat es mir das Rettungsteam erzählt», so Bendicht. Im Spital liegt er in Luftkissen einbandagiert. Kopf und Nacken dürfen sich bis zum Eingriff nicht bewegen. Zwei Tage und Nächte dauert es, bis das OP-Team bereit ist. Einer der Chirurgen fliegt aus den Ferien zurück. «Jeder Millimeter entscheidet. Werden die Schlagadern durchtrennt oder wird das Rückenmark gequetscht, ist es vorbei.» Der Seelsorger ist Bendicht willkommen. «Ich bin offen für ein Gespräch über das Ende des Lebens», bekundet er ihm. Es wird eine Auseinandersetzung über das, was warten könnte – im Bewusstsein, dass er sich in einer absoluten Grenzzone befindet: «Da war kaum Angst, aber eine tiefe Dankbarkeit. Ich wusste: Ich habe ein Leben als grosszügiger Mensch leben dürfen. Ich hinterlasse kein Chaos. Ich gehe jetzt vielleicht diesen Weg in eine neue, absolute Freiheit.» Religiosität spürt er besonders umfassend in Kirchen und Kathedralen, wo er sich oft und lange aufhält. «Orte, an denen ich mich als Mensch im übergeordneten Kontext demütig sehe, unbedeutend und dankbar.» Er zitiert das Lied «God Is a DJ» von Faithless: «Das ist meine Kirche. Das ist der Ort, an dem ich meine Wunden heile.»

Benedicht Luginbühl mit dem Arzt Christian Albers. Der Leiter für Wirbelsäulenchirurgie am Inselsspital Bern hat ihn operiert.
Foto: Zvg

Gegen die krassen Schmerzen bekommt er stärkste Medikamente – «…mit halluzinogener Wirkung», erinnert er sich. In dieser Agonie zwischen Crash und Operation erlebt Bendicht etwas, was er als Nahtoderlebnis beschreibt: «Ich war längs in zwei Hälften geteilt. Die eine Hälfte hier, die andere in einem weissen Feld, das sich in heller Weite sanft verlor. Menschen, die mir in meinem Leben lieb und wichtig waren, kamen bei mir vorbei, in einem wundersam epischen Flow. Ein tiefes Erlebnis, das ein bis heute andauerndes, neu entdecktes Gefühl in mir hinterlassen hat.»

Die OP verläuft gut. Statt der geplanten neun Stunden dauert sie bloss gut halb so lange – seine sportliche Konstitution hilft. Die Reha packt er – gemeinsam mit Therapeuten und einem Coach – zu Hause auf der Matte und im Trainingspool an, fünf Stunden täglich. Besonders das Schwimmen brachte die Bewegungsfähigkeit zurück: «Das dehnt und streckt die Wirbelsäule und bringt die Genick-Rotation zurück.»

Heute steht Bendicht wieder im Leben. Was sich verändert hat? «Ich bin noch konsequenter geworden, mutiger. Mir ist klar geworden, wie zerbrechlich und enorm wertvoll das Leben und die Beziehungen in jeder Sekunde sind. Dass ich mein Leben erneut geschenkt bekommen habe, ist für mich die Gnade des Schöpfers und kein Zufall.»

Andreas Tröndle (59) – «Mein Herz hat mir einen Arschtritt ins Leben gegeben»

Seine Hündin Fiamma ist seine beste Lehrerin: Andreas Tröndle.
Foto: Anina Gmür

Womöglich hat Andreas sein Leben seiner Frau zu verdanken. «Anina liegt oft in meinem Arm und horcht, wie mein Herz pocht. Dabei ist ihr aufgefallen, dass es aussetzt und dann wieder laut hoppert», erzählt er. Lange habe er bloss abgewinkt: «So typisch Mann halt!» Es dauert über ein Jahr, bis er zum Kardiologen geht. Das EKG ist in Ordnung. Erst bei der Untersuchung in der Röhre fällt etwas auf. «Ich musste ewig warten, dann rief mich der Oberarzt in ein Kämmerli.» Die Diagnose: Aortenaneurysma. 7,2 Zentimeter – mehr als doppelt so breit wie normal. «Auf dem Bild sah es aus wie ein Ballon kurz vorm Platzen.» Das bedeutete Hochrisiko: Andreas musste so schnell wie möglich operiert werden.

Bei einem Aortariss verblutet man innerlich

Bis dahin hiess es, sich zu schonen. «Wenn die Aorta platzt, verblutet man innerlich – das dauert nur Minuten. Natürlich macht das wahnsinnige Angst.» Andreas hört sofort auf zu arbeiten. Der studierte Theologe hat sich in der Schweiz einen Namen als erfolgreicher Tanzlehrer der 5 Rhythmen gemacht. «Es war eine wichtige Erfahrung, zu sehen, dass es auch ohne mich geht.» Eine Woche vor der OP verbringt er mit seiner Frau ein paar Tage im Bündnerland. Bei einem Spaziergang trifft das Paar auf eine Dorfbewohnerin mit Welpen. Einen davon schliesst Andreas sofort ins Herz. «Ich wollte schon immer einen Hund, dachte aber, dass mir die Zeit dafür fehlt.» Jetzt kann er nicht mehr warten. Wenigstens eine Nacht soll der kleine Hund zu ihnen kommen – zum Kennenlernen. «Da war es natürlich schon geschehen, obwohl er die ganze Ferienwohnung verkackt hat», sagt Andreas und lacht.

Der studierte Theologe ist spiritueller Tanzlehrer.
Foto: Anina Gmür

Der Eingriff am offenen Herz im Unispital dauert vier Stunden. Alles verläuft gut. Dennoch war das Aufwachen ein Schock: «Ich hatte ein Delir von der Narkose», erzählt Andreas. «Es war wie ein Horrortrip auf LSD, ich dachte, die wollen mich im Spital als Versuchskaninchen festhalten.» Erst als er die Stimme seiner Frau hört, beruhigt er sich. Seine erste Frage: «Wie geht es Fiamma?» So heisst die junge Hündin – sie und seine Frau Anina waren sein Anker nach der OP. Denn es ging Andreas nicht gut: «Mein Puls hämmerte wie verrückt mit 180 Schlägen in der Minute, ich hatte Vorhofflimmern und war depressiv.»

Tiefer im Herzen angekommen

In der fünfwöchigen Reha in Davos wird ihm klar, dass er damit nicht allein ist. «Das Herz ist ein sensibler Ort. In der Kur gab es viele, die sich nach einer Herzerkrankung auch psychisch erholen mussten.» Für ihn ist es ein Zeichen, runterzufahren. «Mir wurde klar, wie ambitioniert und ehrgeizig ich in meiner Arbeit war. Jetzt kann ich besser loslassen.» Sein Pensum hat er halbiert, dafür nimmt er sich mehr Zeit für seine Frau und den gemeinsamen Permakulturhof. «Das ist unser Paradies, dafür möchte ich leben.» Früher war er der Strahlemann, der auf allen Hochzeiten tanzt, heute ist er selektiver geworden. «Ich habe weniger Kontakte, dafür sind meine Beziehungen enger und verbindlicher geworden.» Unterstützt habe ihn auch eine riesige Tanzgemeinschaft, beide Familien und viele Freunde.

Irgendwie sei er tiefer im Herzen angekommen: «Mein Herz hat mir einen Arschtritt ins Leben gegeben», meint Andreas. «Und Fiamma ist die beste Lehrerin dafür: Sie holt mich immer wieder ins Hier und Jetzt zurück.»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?