Leben mit Synästhesie
Bündner Musikerin (43) sieht Töne farbig und schmeckt sie

Wer Synästhesie hat, nimmt durch Verknüpfungen im Gehirn Sinne anders wahr. Die Musikerin Elisabeth Sulser (43) erzählt BLICK, wie es ist, wenn man Töne sehen oder schmecken kann.
Publiziert: 11.11.2020 um 11:10 Uhr
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Aktualisiert: 02.12.2020 um 10:31 Uhr
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Elisabeth Sulser (43) sieht bei Tönen Farben und Formen und schmeckt bei Intervallen verschiedene Dinge.
Foto: Noemi Szabo
Milena Gähwiler

Wenn Elisabeth Sulser (43) den Musikton C hört, sieht sie rot. Die Bündnerin ist eine Ton-Farb-Synästhetikerin. «Das bedeutet, dass bei mir im Gehirn Töne von verschiedenen Farben oder Formen begleitet werden», erklärt sie. So beeinflussen für sie neben dem Klang auch die damit verbundenen Farben, ob sie ein Lied schön findet.

Sulser sieht Töne nicht nur farbig, sondern sie schmeckt sie auch. «Ein angenehm klingendes Lied kann mir einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.» Beim Hören von zwei auseinander liegenden Tönen hat sie einen Geschmack auf der Zunge. So schmeckt für sie eine kleine Terz salzig, eine grosse süss, die Quinte nach einem Glas Wasser und die kleine Sexte nach Vollrahm. Auch der Ton der Kaffeemaschine und das Läuten der Kirchenglocken werden stets von Farben begleitet.

Sinne reagieren gleichzeitig

Die Synästhesie ist keine Krankheit, sondern eine angeborene Besonderheit, die nur rund ein Prozent der Bevölkerung hat. «Es handelt sich um eine Doppelwahrnehmung. Das heisst, wenn man mit einem Sinn einen Reiz aufnimmt, reagiert gleichzeitig auch ein anderer», erklärt Experte Lutz Jäncke (63). Er ist Leiter des Instituts für Neuropsychologie der Universität Zürich und hat sich in den vergangenen Jahren stark mit dem Thema Synästhesie auseinandergesetzt.

Es gibt verschiedene Formen der Synästhesie. «Eine der häufigeren Formen ist die Graphem-Farb-Synähsthesie. Dabei sehen die Betroffenen Buchstaben oder Zahlen farbig», so Jäncke.

Wahrnehmung kann auch trainiert werden

Bei Menschen mit Synästhesie sind zwei Hirnstrukturen besonders stark miteinander verbunden. Diese Wahrnehmungen können nicht unterdrückt werden. Das unterscheidet sie von Menschen, die die Assoziation von zwei Wahrnehmungen trainiert haben.

Jäncke erklärt: «Häufig trifft man in Musik- und Kunsthochschulen auf Personen, die sich als Synästheten bezeichnen. Tatsächlich haben sie aber häufig nur gelernt, zwei Wahrnehmungen wie Ton und Farbe miteinander zu assoziieren.»

Echte Synästheten hingegen kämen bereits mit einem vernetzten Gehirn zur Welt, so der Experte. Die Wahrnehmungen, die sie in den ersten Lebensjahren haben, beeinflussen, welche Sinne sie verknüpfen.

Blauer Regen

Sulsers war schon seit klein auf von Musikinstrumenten umgeben. Ihre Liebe zur Musik entdeckte sie schon früh, dass sie Synästhetikerin ist, hat sie aber erst mit 16 Jahren gemerkt. «Es hat geregnet, und ich habe erkannt, dass das Geräusch des Regens auf dem Asphalt ein G ist und gleichzeitig die Farbe blau hat.»

Obwohl sie bereits ihr ganzes Leben lang Synästhetikerin ist, wurde ihr erst in dem Moment klar, dass ihre Wahrnehmung anders ist, als die ihrer Mitmenschen. «Es war für mich, als hätte ich den Unterschied zwischen mir und den andern entschlüsselt. Als wäre ich eines Tages aus dem Nebel getreten und konnte nun klar sehen», beschreibt sie das Gefühl.

Trotzdem fühlte sie sich allein in ihrer Situation. Niemand in ihrem Umfeld konnte sich ihre Art von Wahrnehmung verstehen.

«Die Synästhesie wurde erst 2005 zufällig bei einer Musikuntersuchung entdeckt», weiss Jäncke. Die Forschung in dem Gebiet ist noch sehr gering. «Da unser Wissen neu ist und es sehr schwierig ist, echte Synästheten zu finden, gibt es nur wenige eindeutige Studien.»

Synästhesie sei aber nichts Esoterisches oder Spirituelles, sondern eine Variation des normalen, erklärt Jäncke. Es gäbe Hinweise auf eine genetische Vererbbarkeit, die aber noch nicht ausreichend bewiesen werden konnte.

«Am Abend mag ich es lieber, wenn es still ist»

Für Sulser hat ihre Synästhesie Vor- und Nachteile: «Es erleichtert es mir, Musik im Kopf zu behalten. So merke ich mir bei einem Lied nicht nur die Melodie und die Noten, sondern auch die Bilder und Geschmäcker dazu. Alles ist doppelt abgespeichert». Bilder, die sie zu Musik gemalt hat, kann sie wie Musiknoten lesen.

Da Sulser ihren Alltag mit mehreren Sinnen gleichzeitig wahrnimmt, wird es ihr aber ab und zu auch zu viel. Deshalb bevorzugt sie am Abend ihre Ruhe. «Um etwas abzuschalten, gehe ich gerne allein in die Natur. Ich brauche nach einem strengen Tag auch keine Musik mehr und habe es lieber, wenn es still ist.»

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