Viele von uns hatten vermutlich in der Schule, der Pfadi oder im Sportverein das eine «hyperaktive» Gschpändli, das nie ruhig sitzen konnte, oft dazwischenredete und im Unterricht störte. Das ist nicht verwunderlich, sind in der Schweiz doch rund drei bis fünf Prozent aller Kinder vom Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) betroffen.
In den meisten Fällen ging man davon aus, dass sich das Problem gewissermassen von selbst löst, indem sich das ADHS nach der Pubertät einfach auswächst. Heute weiss man allerdings, dass dem nicht so ist.
Lange eine Kinderdiagnose
«Lange Zeit war ADHS tatsächlich ausschliesslich eine kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose», erklärt Psychiater Andreas Fuchs, leitender Arzt der ambulanten Dienste Wil der Psychiatrie St. Gallen-Nord. «In meiner Wahrnehmung hört man in den letzten Jahren aber auch immer mehr über ADHS bei Erwachsenen.»
Dem Experten zufolge sind drei Kernsymptome ausschlaggebend, ob ein Mensch an ADHS leidet: Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität.
Lernen, mit den Symptomen umzugehen
«Im Prinzip ist das bei Erwachsenen genau gleich wie bei Kindern», führt Fuchs aus. «Nur lernen die meisten mit zunehmendem Alter, mit den Symptomen umzugehen – also, sich zusammenzureissen und weitgehend normal zu funktionieren.»
«Besonders die Symptome Hyperaktivität und Impulsivität nehmen mit zunehmendem Alter ab», so der Experte. Das ist mit ein Grund, dass lange Zeit gedacht wurde, dass sich ein ADHS auswächst.
Typischerweise kommt die Erkrankung gehäuft in einer Familie vor. Sie ist also erblich bedingt. Fuchs erklärt: «ADHS ist ein angeborenes biologisches Merkmal, etwa so wie die Augen- oder Haarfarbe. Betroffene haben biologisch bedingt Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren.»
Negativer Einfluss auf die Karriere
Auch wenn die Symptome mit zunehmendem Alter eher unter Kontrolle gebracht werden, können die Auswirkungen des ADHS unter Umständen einschneidend sein. «Kinder mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, im Unterricht zu folgen, was sich in ungenügenden Noten und Klassenrepetitionen äussert», sagt der Psychiater. Ausserdem sind laut dem Experten gehäufte Bagatellunfälle, verursacht durch Unaufmerksamkeit und Impulsivität, keine Seltenheit.
Im schlechtesten Fall hindert ein ADHS den betroffenen Menschen daran, eine Ausbildung zu machen oder Erfolg im Beruf zu haben. Fuchs sagt dazu: «Erwachsene leiden nicht direkt unter den Symptomen, sondern eher an den sozialen Folgen, etwa an einer schlechteren Ausbildung wegen Schulversagen und fehlender Durchhaltefähigkeit.»
Oft sind Betroffene zudem anfälliger auf den Missbrauch von Substanzen, wie Fuchs erläutert: «Das kann Alkohol sein, aber auch illegale Drogen. Vielfach versuchen sie sich mit dem Substanzkonsum irgendwie selbst zu behandeln und zu beruhigen.»
ADHS lässt sich gut behandeln
Dabei liesse sich ADHS, sofern erkannt, gut behandeln. Für die Diagnosestellung stehen den Ärzten und Psychologen verschiedene Tests, mit denen die Aufmerksamkeit gemessen werden kann, zur Verfügung. «Am wichtigsten für die Diagnosestellung», betont Fuchs, «ist aber die Vorgeschichte des Patienten. Im Idealfall befragen wir auch noch einen nahen Angehörigen. Oft zeigt sich dann, dass schon während der Schulzeit die Kernsymptome vorhanden waren und Probleme auftraten.»
Viele merken erst als Erwachsene, dass sie ADHS haben: So auch Melanie Winiger. Die Moderatorin ist damit in guter Gesellschaft: Viele Prominente haben es genau dank ihrer besonderen Persönlichkeit zum Erfolg geschafft.
Viele merken erst als Erwachsene, dass sie ADHS haben: So auch Melanie Winiger. Die Moderatorin ist damit in guter Gesellschaft: Viele Prominente haben es genau dank ihrer besonderen Persönlichkeit zum Erfolg geschafft.
Medikamente und Training
Die Behandlung von ADHS wird dabei auf zwei Arten angegangen. Zum einen medikamentös, zum anderen nicht-medikamentös. «Medikamente wie zum Beispiel Methylphenidat, die bei Kindern schon seit Jahrzehnten eingesetzt werden, kommen nun auch immer öfter bei Erwachsenen zum Zug», erklärt Fuchs. Sie verbessern die Konzentrationsfähigkeit und mit ihnen verschwinden die Symptome in vielen Fällen vollständig.
Bei der nicht-medikamentösen Behandlung geht es für Betroffene vor allem darum, Techniken zu erlernen, wie mit der Störung umgegangen werden kann. «Das geht in Richtung Arbeitstechniken wie sich besser konzentrieren, Pause machen und so weiter», führt der Experte aus.
Mit der richtigen Behandlung lässt sich also ein weitgehend beschwerdefreies Leben führen.