Wie Synästhetiker die Welt wahrnehmen
Ein Leben mit verknüpften Sinnen

Ob grüne Töne oder ein Wochentag, der nach Erdbeeren schmeckt: Bei Synästhetikern verknüpfen sich Reize, die eigentlich nicht zusammengehören. Doch verrückt sind diese Menschen nicht – im Gegenteil.
Publiziert: 26.06.2018 um 17:42 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 15:42 Uhr
Bei Synästhetikern vermischen sich die Sinne. Zum Beispiel nehmen sie Töne auch als Farben wahr.
Foto: Shutterstock
Stephanie Schnydrig @higgsmag

Der Monat Mai ist weich und hell. An seinem linken Rand befindet sich ein schwarzer Balken. Ausserdem ist der Wonnemonat voller Energie. Ganz anders als die orangefarbenen Juni und Juli: Das sind sich duckende, eng beieinander liegende Monate – bedrückend und einengend fühlen sie sich an. «Nie und nimmer würde ich in den Sommermonaten etwas Grosses planen», sagt Molly Holst, «zum Beispiel umziehen oder den Job wechseln.» Was für viele verrückt klingen mag, ist für die 53-Jährige aus Norddeutschland das Normalste der Welt: Wochentage, Zahlen und eben Monate haben Farben, Formen, Geschmäcker und sogar Charaktereigenschaften. Menschen mit einer solchen ausgefallenen Sinnesverknüpfung nennt man Synästhetiker.

Zwar kennt jeder von uns das Phänomen, sich beim Riechen eines bestimmten Dufts auf einmal geborgen zu fühlen – etwa wenn der Geruch von frischgebackenem Brot durch die Wohnung strömt. Doch bei Synästhetikern vermischen sich die fünf Sinne – Hören, Sehen, Schmecken, Fühlen und Riechen – noch weit komplexer miteinander: Buchstaben sind farbig, Zahlen schmecken süss oder bitter, Töne piksen auf der Haut.

Ein wahres Farborchester

Wie häufig Synästhesie auftritt, ist nicht vollständig geklärt. Wissenschaftler schätzen, dass 0,1 bis 5 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Sicher ist aber, dass Synästhesie vererbbar ist, denn sie tritt gehäuft innerhalb von Familien auf. In einer Studie von Forschern des Trinity College Dublin gab fast die Hälfte der über fünfzig befragten Synästhetiker an, mindestens einen weiteren Betroffenen unter ihren Verwandten zu kennen.

Molly Holst in ihrem Malzimmer, wo sie ihre synästhetischen Eindrücke in Zeichnungen verwandelt.
Foto: Privat Molly Holst

Diese Menschen erleben solche Sinneseindrücke häufig bereits im Kindesalter – und dann meist das ganze Leben lang. Dagegen wehren kann man sich nicht. Auch die Erziehungspädagogin Molly Holst machte ihre ersten Erfahrungen als Kind: «Daran erinnere ich mich noch genau», sagt sie. «Meine Mutter sang ein Lied – und vor mir tat sich ein wahres Farborchester auf.» Damals war Holst vier Jahre alt – und dachte, dass alle die Welt so wahrnehmen würden wie sie. «Erst mit zwölf Jahren eröffnete mir meine damals beste Freundin, dass Uhrzeiten gar nicht farbig sind», sagt Holst. «Ich war geschockt.»

So geht es Betroffenen häufig. Doch viele reden gar nicht erst über ihre Erlebnisse. «Oft fürchten sich Synästhetiker davor, als krank abgestempelt zu werden», sagt der Psychiater Markus Zedler, Oberarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist einer der weltweit führenden Synästhesieforscher und hat während seiner Arbeit bereits über tausend Betroffene kennengelernt. Die meisten seien sehr erleichtert, von einem Arzt zu hören, dass sie nicht psychisch krank seien, sondern eine völlig bedenkenlose Veranlagung besitzen würden, sagt Zedler. Auch Holst empfand es als Befreiung, als sie erfuhr, dass ihre Erlebnisse einen Namen besitzen: «Endlich wusste ich, wieso ich die Welt anders empfinde als mein Umfeld.» Um sich mit den vielfältigen Sinneseindrücken auseinanderzusetzen und diese zu sammeln, hat sie sich ein Malzimmer eingerichtet, in dem sie regelmässig ihre Sinneseindrücke in Bildern festhält.

Der Grund: Verknüpfungen im Gehirn

Dass sich Menschen wie Molly Holst ihre Wahrnehmungen tatsächlich nicht nur einbilden, zeigen Hirnscans. Das belegen Studien von mehreren Forschungsgruppen, unter anderem der Universität Zürich. So weisen verschiedene bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie bei Synästhetikern auf spezielle und besonders viele Querverschaltungen im Gehirn hin. In diesen Verknüpfungen zwischen Hirnarealen liegt der Grund für die vermischte Wahrnehmung. Wenn etwa Nervenfasern zwischen dem Buchstaben- und Farbareal verbunden sind, können vermeintlich unabhängige Sinneseindrücke zusammen aktiviert werden. Die Kopplung zwischen Buchstaben und Farben ist unter Synästhetikern sehr häufig, in der Fachsprache wird diese Form auch graphemische Synästhesie genannt. Ebenfalls häufig tritt die Kalender-Synästhesie auf, bei welcher Wochentage farbig oder dreidimensional im Raum wahrgenommen werden.

Schematische Darstellung von Verknüpfungen im Gehirn: Jenes von Synästhetikern ist komplexer als bei Nicht-Synästhetikern.
Foto: Universität Zürich

Berühmte Synästhetiker

Die vielfältigen Sinneseindrücke können belasten. Zwar ist Synästhesie keine Krankheit, doch stark synästhetisch veranlagte Personen klagen häufig über Konzentrationsschwierigkeiten. «Ich war eine miserable Schülerin», gesteht auch Holst. Dauernd sei sie von Reizen überflutet worden.

Normalerweise aber kommen Betroffene gut zurecht. «Viele von ihnen haben ein ausserordentlich gutes Gedächtnis und sind häufiger in kreativen Berufen zu finden als andere Menschen», sagt Markus Zedler. Auch besonders erfolgreiche Synästhetiker sind bekannt: Etwa der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman oder der Maler Wassily Kandisky. Auch Lady Gaga und Chris Martin, Frontsänger der Musikgruppe Coldplay, sollen Betroffene sein. Die Meinungen, ob tatsächlich die Synästhesie für deren ausserordentliche Leistungen verantwortlich ist, driften auseinander. Doch: «Im Alltag hilft Synästhesie unbestritten als Gedächtnisstütze», sagt Zedler. Denn die gekoppelten Sinneseindrücke sind eine Art eingebaute Eselsbrücken. Das funktioniert zum Beispiel so: Trifft ein Synästhetiker auf eine entfernte Bekannte, sieht er Gelb – die Farbe des Buchstaben S. Dann hangelt er sich von Sabina, Simona, Susanna zum richtigen Namen – Sandra!

Mit Training zum Synästhetiker

Wer selbst gerne einmal Synästhesien erleben möchte, darf sich freuen: Eine kürzlich erschienene Studie des kognitiven Neurowissenschaftlers Nicolas Rothen der Universität Bern zeigt, dass gewisse synästhetische Erscheinungen erlernbar sind. Für die Studie entwickelte Rothen zusammen mit Forscherkollegen aus England ein fünfwöchiges Training, an dem über zwanzig nicht-synästhetische Erwachsene teilnahmen. Das Training bestand unter anderem darin, mit einer speziellen Software eine Schrift zu lesen, bei der jeder Buchstabe eine andere Farbe hatte. Der Buchstabe A war zum Beispiel immer rot, B immer blau. Zusätzlich lernten die Teilnehmenden die Buchstaben-Farb-Kombinationen bewusst auswendig. Und tatsächlich: Nach Abschluss des Trainings berichteten die Probanden auch dann von farbigen Buchstaben, wenn sie in Realität schwarze Buchstaben auf weissem Untergrund sahen.

Das Überraschendste für das Forscherteam war, dass sich die gemessenen Hirnströme der Probanden beim Lesen nicht mehr von jenen von echten Graphem-Farb-Synästhetikern unterschieden. «Es ist das erste Mal, dass sich mit einem Training solche Veränderungen der Hirnströme herbeiführen liessen», sagt Rothen. Allerdings waren diese Effekte nur vorübergehend – drei Monate nach Testende liessen die synästhetischen Phänomene wieder nach. Schwarz war wieder schwarz. «Um dauerhaft solche Erlebnisse zu haben, müsste man das Training wohl länger ausführen», meint Rothen.

Das Bild «Familie», gemalt von Molly Holst. Die Synästhetikerin nimmt ihre Familienmitglieder auch als Farben und Zahlen wahr.
Foto: Privat Molly Holst

Dagegen sind die vielfältigen Sinneserlebnisse bei der Synästhetikerin Molly Holst allgegenwärtig. Um sich mit ihnen auseinanderzusetzen, zieht sie sich regelmässig in ihr Malzimmer zurück. In Bildern hält sie fest, wie sie ihre Umwelt tagtäglich wahrnimmt. Etwa im Bild namens «Familie»: Darin stehen drei Figuren nebeneinander – blau, grün und gelb – mit Zahlen und Kreisen auf ihren Körpern. Und über ihren Köpfen schweben rötliche Formen, die mit einem schwarzen Strich verbunden sind.

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