1. Am Boden: Kleiner Störenfried
Auf öffentlichen Plätzen sind sie omnipräsent: plattgedrückte Kaugummis. Ein Beispiel dafür ist der Sechseläutenplatz in Zürich, der grösste dieser Art in der Schweiz: 2014 eröffnete er neu mit einem Belag aus Valser Quarzit. Fünf Jahre später erinnern die oft frequentierten Stellen an einen Terrazzo-Boden in 50 Grautönen. Warum unternimmt niemand etwas dagegen?
«Das wäre zu teuer», sagt Leta Filli, Mediensprecherin von Entsorgung und Recycling Zürich (ERZ). Man habe unterschiedliche Entfernungsmaschinen getestet, doch sei man mit ihren Leistungen nicht zufrieden. Ausserdem bleibe nach der Entfernung eines Kaugummis sein Negativ auf dem Asphalt zurück. In Form eines weissen Flecks. «Das ist auch nicht schön.» Frau Filli ist bemüht, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf das Thema zu lenken. Es gebe kaum Reklamationen, sagt sie.
Wer sich auf Zueriwieneu.ch umsieht, wird bestätigt. Auf der vom Tiefbau- und Entsorgungsdepartement betriebenen Webseite können Bürger Schäden an der städtischen Infrastruktur melden. Mehr als 14 000 Einträge zählt die Seite bereits. Doch Kaugummis sind hier niemandes Sorge.
Wenn sie an Strassenlampen und anderen Pfosten kleben, unterstützen Flüchtlinge das ERZ im Auftrag der Asylorganisation Zürich in sogenannten Fötzel-Aktionen bei der Entfernung und erhalten dafür eine kleine finanzielle Entschädigung. Um kaugummifreie Zonen wie um den Zürcher Prime Tower kümmert sich das Facility Management des jeweiligen Gebäudes. Es lässt Kaugummis einfrieren und abkratzen. Mehr Aufwand muss in einer der saubersten Städte der Welt nicht betrieben werden.
900 Millionen Euro um Kaugummis zu entfernen
Anders in deutschen Grossstädten, wo laut der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» bis zu 80 ausgespuckte Kaugummis auf einem Quadratmeter Strasse kleben. Rund 900 Millionen Euro gehen im ganzen Land jährlich fürs Entfernen drauf.
In Rom landen offenbar täglich rund 15 000 Kaugummis auf der Strasse, also fast 5,5 Millionen pro Jahr. Einen Euro koste es, einen davon zu entfernen, sagt die Stadtverwaltung. Klingt wie eine billige PR-Aktion, um Touristen zu sensibilisieren. Für ein Land, in dem Berge aus illegal entsorgtem Abfall zum Strassen- und Landschaftsbild gehören, sind das jedenfalls verdächtig genaue Zahlen.
2. Im Restaurant: Die armen Kellner
Viele Gäste scheinen sich schwerzutun, einen Kaugummi «artgerecht» zu entsorgen. Vor allem in Gartenbeizen sollte man sich niemals die Unterseite der Tischplatte ansehen. Servicemitarbeiter kommen nicht darum herum. Man möge sie doch bitte nach einer Serviette fragen, schreibt ein amerikanischer Kellner in einem Beitrag des Online-Magazins «Thought-Catalog», oder den Kaugummi auf der Toilette in den Abfall spucken.
Der Arme hat den Job gefasst, jeden Abend am Ende seiner Schicht die Tische nach Kaugummis abzusuchen. Jedes Mal findet er zahlreiche, manchmal sogar mehrere an derselben Stelle. Er schreibt, wie sehr er es hasse, seine Arbeitstage auf dem Rücken liegend mit einer Spachtel in der Hand zu beenden, während ihm weisse Bröckchen ins Gesicht rieseln.
In der Schweizer Gastronomie will niemand Vergleichbares erlebt -haben. Bei der Hotelfachschule Thun sagt man auf Anfrage, das Problem sei nicht bekannt. Genauso beim Volkshaus Basel, einem Restaurant mit grossem Openair-Bereich. Mag sein, dass die Schweizer diesbezüglich mehr Anstand haben als die Amerikaner. Und falls dem nicht so ist, möchte wohl kein Gastronom seine Gäste unter Generalverdacht stellen.
Wer macht so etwas und warum?, fragt sich jeder, der im Restaurant plötzlich irgendwo etwas Weiches unter den Fingern spürt. Sind
es Raucher, die während eines Dates schnell paffen gehen
und auf dem Weg zurück zum Objekt der Begierde den Atem erfrischen? Oder sind es Gäste, die schlecht bedient werden? Falls ja, müsste es in der Schweiz viel mehr Kaugummis unter den Tischen geben als in den USA. Die Sache bleibt rätselhaft.
3. Im Handel: Marketing ist alles
Jeder Kaugummi-Konsument kennt sie: die Auslagen an den Kiosken mit
den schön nach Farben geordneten Kaugummipäckchen, die
sich beim Herausfingern schön glatt anfühlen.
Gemäss der Firma Valora, Betreiberin der meisten Schweizer Kioske, liegt die Menge jährlich verkaufter Packungen in der Schweiz im achtstelligen Bereich, also irgendwo zwischen 10 und 90 Millionen Stück – fast alle zuckerfrei.
Die Lieblingsaromen der Kioskkunden sind Minze, Menthol, Eukalyptus und Kirsche. Ihre Lieblingsmarke: Stimorol. Der meistverkaufte Kaugummi in der Schweiz wird in Polen und der Türkei hergestellt und ist ein Produkt des US-Lebensmittelgiganten Mondelez, der auch die Marken V6, Toblerone und Milka im Portfolio hat.
Ursprünglich stammt Stimorol aus Dänemark. 1959 beginnt ein niederländischer Tabakproduzent die Kaugummis in die Niederlande zu importieren. Wahrscheinlich um gleich noch vom
Raucheratem seiner Kundschaft zu profitieren. Ab 1974 importiert er auch in die Schweiz. Im selben Jahr beginnt die Chocolat Frey AG mit der Herstellung von Kaugummi. Bis heute ist die Migros-Tochtergesellschaft der einzige Schweizer Kaugummihersteller.
Die Fabrik in Buchs AG produziert laut Pressestelle jährlich rund 5000 Tonnen, wovon 85 Prozent nach West- und Osteuropa, in die USA, nach Kanada und England gehen. Dort landen sie unter diversen Markennamen im Verkauf. Die restlichen 15 Prozent kommen in Form von Skai und -anderen Hausmarken in den Regalen der Migros zu liegen.
Obwohl sich die Kaugummiprodukte nicht gross unterscheiden, bleiben Konsumenten einer Marke meist über lange Zeit treu – ähnlich wie Raucher den Zigaretten.
Diese lange Bekanntschaft könnte die Ursache dafür sein, dass viele Konsumenten ihre Lieblingsmarke automatisch mit Heimat verbinden, auch wenn sie von ganz woanders stammt. Die in England beliebte Marke -Airwaves wird zum Beispiel von der US-Firma Wrigley hergestellt, die diverse britische Motorsport-Events sponsert. In Amerika wird die Marke nicht gepusht. Im Fall von Kaugummis zeigt sich, wie sich ein Produkt, das eigentlich immer gleich daherkommt, mit zielgruppenorientierter Werbung zur Goldgrube machen lässt.
4. In der Kunst: Viel Brech, wenig Reiz
Als amerikanisches Kult-Produkt wäre der Chewinggum prädestiniert gewesen als Motiv für die Pop Art. In der Kunstperiode, die in den 50er- und 60er-Jahren ihre Blütezeit erlebte, findet man ihn aber kaum.
Heute setzen sich ein paar wenige mehr oder weniger anerkannte Künstler mit dem Kaugummi als Wegwerfprodukt auseinander. Ben Wilson aus England bemalt direkt auf der Strasse bunte Bildchen auf flach getretene Kaugummis, die irgendwer ausspuckte, und lässt sie kleben. Stichwort Streetart.
Die Belgierin Simone Decker vertrat ihr Heimatland an der Biennale in Venedig (I) im Jahr 1999 mit fotografisch in Szene gesetzter Kaugummimasse. Mit einer optischen Täuschung liess sie rosarote Blasen vor der Kulisse der italienischen Lagunenstadt überdimensional gross wirken. Ein unappetitlicher Stilbruch.
Brechreiz erzeugt ein Kunstwerk des Kanadiers Doug Coupland, der eine riesige Büste von sich selbst vor einer Galerie in Vancouver aufstellen liess. Passanten durften ihre gebrauchten Kaugummis daran kleben. Wie die Büste an heissen Sommertagen aussah, wollen Sie gar nicht wissen.
Richtig Angst machen die Werke der US-Amerikanerin Heather
Dewey-Hagborg, die sich als Biohackerin bezeichnet. Sie nimmt Kaugummis von der Strasse, analysiert die DNA-Spuren in ihnen und bildet damit das Gesicht der Person nach, die den Kaugummi einst im Mund hatte. Damit zeigt sie, wie breit ein Mensch im Alltag Informationen über seine Erbanlagen streut.
Gleichzeitig will Dewey-Hagborg darauf aufmerksam machen, dass mit Hilfe von DNA kein akkurates Phantombild gezeichnet werden kann, weil sich vor allem die ethnische Abstammung nur sehr ungenau eingrenzen lässt. Auch der Zustand der Haut ist bei ihren Masken willkürlich. Die Künstlerin hat eine Maske ihrer eigenen DNA gefertigt, die um einiges besser aussieht als das Original. So viel Eitelkeit muss sein.