Die Zeichen standen 1882 denkbar günstig für das erste eidgenössische Epidemiengesetz. Es sollte aber ganz anders kommen.
Der Plan war, den Flickenteppich kantonaler Verordnungen durch eine einheitliche Regelung zu ersetzen. Sowohl National- wie auch Ständerat begrüssten den Gesetzesentwurf und winkten ihn mit grossem Mehr problemlos durch die Parlamente. Die Presse vertrat mehrheitlich die Meinung der Regierung, und kritischen Einwänden schlug die geballte Argumentation von Politik, Recht und Wissenschaft entgegen.
Der Zwang zur Impfung gegen die Pockenkrankheit war ein kleiner, aber zentraler Teil des Gesetzes. Zürich kannte bereits seit 1836 ein Impfobligatorium. Die Kantone Bern, Basel-Stadt, Waadt und St. Gallen zogen nach 1848 mit eigenen Impfgesetzen nach. Bis in die 1860er-Jahre hatten die meisten Kantone ein gesetzliches oder zumindest faktisches Obligatorium eingeführt.
Gefahr durch Pocken
Infolge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 traten die Pocken über die internierten Soldaten in der Schweiz wieder epidemisch auf und forderten zahlreiche Todesopfer. Man war sich der hohen Sterblichkeit aufgrund der Pocken und anderer «gemeingefährlicher Krankheiten», die im Gesetz Erwähnung fanden, sehr wohl bewusst. Gute Aussichten für das neue Gesetz also.
Nichtsdestotrotz brachten die Gegner des revidierten Epidemiengesetzes innert Monatsfrist über 80'000 gültige Unterschriften für ein Referendum zusammen, und so kam das «Bundesgesetz betreffend Massnahmen gegen gemeingefährliche Epidemien» am 30. Juli 1882 schweizweit zur Abstimmung.
Am Ende des Abstimmungstages hatte eine überwältigende Mehrheit von 78,9 Prozent entschieden. Allerdings nicht für, sondern gegen das Gesetz. Aus dem erhofften Ständemehr war beinahe ein «Ständenichts» geworden. Lediglich der Kanton Freiburg legte ein Ja in die Urne. Die übrigen Kantone sagten Nein.
Wie war dieser Denkzettel zustande gekommen? Eine eingehende historische Studie steht noch aus, aber bereits damals wurde angenommen, dass das Epidemiengesetz letztlich an seinem strengen Passus über die landesweite Impfpflicht gescheitert war. Nur geimpften Kindern sollte der Schulbesuch dem Gesetz nach möglich sein; Erwachsene, die sich nicht impfen bzw. wieder impfen liessen, sollten mit einer Busse von bis zu 1000 Franken bzw. Haft von bis zu sechs Monaten bestraft werden können.
Bund unterschätzte Impfskepsis
Die unerwartet deutliche Ablehnung des ersten Epidemiengesetzes lässt auf eine massive Fehleinschätzung der Befürworter schliessen. Für sie war die Sache klar. Im 18. Jahrhundert war den Sterbelisten zufolge etwa jedes zehnte Kind an den Pocken gestorben. Der englische Landarzt Edward Jenner hatte 1798 die Übertragung von Kuhpocken in die akademische Medizin eingeführt, weshalb die Impfung ihren Namen Vakzination, abgeleitet vom lateinischen Wort «vacca», dt. «Kuh», erhielt. Innerhalb weniger Jahre impfte man in weiten Teilen Europas, auch in den Gebieten der heutigen Schweiz, Tausende von Kindern. Die Pocken konnten so zurückgedrängt werden. Je mehr also geimpft wurde, umso besser, sagten die Verteidiger einer Impfpflicht. Mit kritischen Einschätzungen von Impfung oder Impfzwang setzten sie sich nicht genügend ernsthaft auseinander, sondern griffen in der Regel nur die extremeren Ansichten heraus, um die ganze Impfkritik als völlig absurd darzustellen.
Die Impfung war jedoch ein Thema, das vielen Menschen buchstäblich unter die Haut ging. Wenige Jahre nach den ersten Vakzinationen erkrankten nicht nur Ungeimpfte, sondern vereinzelt auch Geimpfte an den Pocken. Die Fälle wurden jedoch als Falschmeldungen abgetan oder fehlerhaften Impfpraktiken zugeschrieben. Erst nachdem ein von Jenner selbst geimpftes Kind an Pocken erkrankt war, anerkannten auch offizielle Medizinalbeamte die zeitlich beschränkte Wirkung der Impfung und empfahlen die Revakzination. Das Vertrauen in die Impfung und damit in das aufstrebende staatliche Gesundheitswesen hatte einen empfindlichen Schlag erlitten.
Die Impfungen liefen keineswegs immer reibungslos ab. In den Anfängen wurde oft von Verwechslungen der Kuhpocken mit anderen Tierseuchen und schmutzigen Impflanzetten berichtet. Nachdem die Lymphe mehrheitlich von zuvor geimpften Personen gewonnen wurde, wuchs die Gefahr der Übertragung anderer Krankheiten, vor allem der Syphilis.
Die Aufbewahrung des Serums machte Probleme. Der oft mit Schmerzen, Erkrankung, Entzündung und Narben, zuweilen auch mit Kosten verbundene Eingriff liess viele Eltern zögern, ihre gesunden Kleinkinder impfen zu lassen.
Ähnliche Fragen wie heute
Mit dem Impfzwang standen auch grundsätzliche politische Fragen zur Diskussion: Darf ein Staat über körperliche Eingriffe an Individuen verfügen, gerade in einem Land wie der Schweiz? Welche Kompetenzen sollen den Kantonen bleiben? Wie viel Deutungsmacht kann die aufstrebende Ärzteschaft für sich beanspruchen?
Staatliche und medizinische Repräsentanten führten den Abstimmungskampf in einem überheblichen, besserwisserischen Ton. Sie verunglimpften ihre Gegner, indem sie nachvollziehbare impfkritische Argumente nicht wahrnahmen und skeptische Äusserungen pauschal als irrationale Ängste der unwissenden Bevölkerung darstellten – eine Taktik, die sich in manchen historischen Darstellungen bis heute gehalten hat.
Die Ablehnung des ersten eidgenössischen Epidemiengesetzes zeigt, dass Impfdebatten mehr beinhalten als den politischen Umgang mit Epidemien. An ihnen erweist sich die Fähigkeit eines Gemeinwesens, mit unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen respektvoll und integrativ umzugehen.
Bereits 1886 kam eine zweite Fassung des Epidemiengesetzes durch – dieses Mal ohne Impfzwang. Grundsätzlich neu wurden die Weichen mit dem revidierten Epidemiengesetz gestellt, das 2013 – ebenfalls durch ein Referendum – mit 60 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde. Das Gesetz kennt zwar ein mögliches Impfobligatorium, also den indirekten Zwang, etwa für bestimmte Berufsgruppen. Bis heute aber wird die Regierung nicht müde zu betonen, dass kein Impfzwang vorgesehen ist. In der Frage des Impfzwangs dürften die Erfahrungen mit der Abstimmung von 1882 bis in die Gegenwart nachwirken. Dagegen ist es noch heute verbreitet, Skepsis gegenüber einzelnen Impfungen pauschal abzuwerten und sie auf Verschwörungstheorien zu reduzieren.
Professorin Iris Ritzmann (58) ist Medizinhistorikerin und spezialisiert auf Patientengeschichte.
Eberhard Wolff (61) ist Professor für Kulturanthropologie in Basel und Medizinhistoriker und Kulturwissenschaftler in Zürich.
Die beiden sind verheiratet.
Professorin Iris Ritzmann (58) ist Medizinhistorikerin und spezialisiert auf Patientengeschichte.
Eberhard Wolff (61) ist Professor für Kulturanthropologie in Basel und Medizinhistoriker und Kulturwissenschaftler in Zürich.
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