Ukrainische Journalistin über ihr bedrohtes Land
«Bei Gefahr organisieren wir uns wie ein Bienenschwarm»

Was nicht eigenständig existiere, dürfe man sich zurückholen. So rechtfertigt Putin die russische Invasion. Die ukrainische Journalistin Halyna Chop Muff (33) erklärt, weshalb das Unsinn und die Identität ihres Heimatlandes heute stärker als je zuvor ist.
Publiziert: 16.03.2022 um 10:53 Uhr
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Aktualisiert: 16.03.2022 um 19:23 Uhr
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Dass er die Ukraine angreift, rechtfertigt Wladimir Putin unter anderem damit, dass er dem Land seine gesamte Existenzberechtigung abspricht. Die ukrainische Journalistin Halyna Chop Muff (33) sagt, dass die gemeinsame Vergangenheit mit Russland nur ein Teil der Kultur und Gesellschaft ihres Heimatlandes sei.
Foto: zVg
Lea Ernst

«Die Ukraine ist geopolitisch als auch kulturell eine komplette Mischung aus Ost und West», sagt Halyna Chop Muff (33). Die Journalistin ist in der Westukraine geboren und lebt seit fünf Jahren in der Schweiz im Kanton Luzern. In ihrer Heimat überschneidet sich nicht nur westliches und östliches Christentum mit alten heidnischen Überzeugungen. Parallel dazu leben in dem Land unter anderen Juden, Armenier, Krimtataren, Roma, Ungarn.

Die moderne Ukraine sei ein Land, das sich schnell entwickle, sagt Chop Muff. Doch die Modernisierung geschehe unter Einbezug der Traditionen. Ob in der Literatur, der bildenden Kunst oder in der Küche: «Die neuen Trends werden meist sehr eng verknüpft mit dem, was wir schon von unseren Grosseltern gelernt haben», so Chop Muff.

Das Vorzeigebeispiel für diese Mischung aus Trends und Tradition ist die moderne Musik der Ukraine. Folklore trifft auf Rock oder Rap, traditionelle Instrumente werden mit elektronischer Musik gemischt. Noch heute ist es in der Ukraine üblich, bei Familienfesten zusammen alte Lieder zu singen. So werden sie von Generation zu Generation weitergegeben. Chop Muff sagt: «Dank solcher Lieder überlebten unsere Sprache und unsere Kultur, die unter der russischen Herrschaft lange unterdrückt und im 19. Jahrhundert gar verboten wurden.»

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Borschtsch und Barrikaden

Die wohl typischste Tradition des Landes: Toloka. Dabei kommt das ganze Dorf, kommen Freunde und Familie zusammen, um ein Haus für ein neues Mitglied der Gemeinschaft zu bauen. «Nur wenige sind in der Lage, sich so leidenschaftlich zu streiten und schon im nächsten Moment wieder für ein gemeinsames Ziel zu vereinen», sagt Chop Muff.

Noch heute findet man in Kiew und anderen Städten der Ukraine archäologische Überbleibsel der Kiewer Rus, damals im 10. Jahrhundert nach Christus das mächtigste Grossreich Europas. Chop Muff sagt: «Damals war dort, wo heute Moskau liegt, nichts als ein Sumpf.» Drei Revolutionen haben ihr Land seit 1990 erschüttert, als junge Demokratie musste die Ukraine schon oft um ihre Unabhängigkeit kämpfen.

Zwei weitere Dinge, die Chop Muff für typisch ukrainisch hält und die man in ihrem Heimatland jederzeit aus dem Nichts herzaubern könne: das Nationalgericht Borschtsch und Barrikaden. Denn so unterschiedlich die Ansichten und Vorlieben innerhalb des Landes auch sein mögen: «Bei Gefahr organisieren wir uns wie ein Bienenschwarm». Denn typischer als alles andere für die ukrainische Identität seien die Freiheitsliebe und die Fähigkeit, sich angesichts der Gefahr zu vereinen.

Typisch Ukraine – wofür das Land bekannt ist

IT-Wunder

In den vergangenen Jahren hat sich die ukrainische IT-Branche zu einem der wichtigsten ökonomischen Motoren des Landes entwickelt, die internationale Nachfrage nach den IT-Spezialisten des Landes ist sehr hoch. Im Jahr 2020 machte der IT-Anteil der Gesamtexporte des Landes 8,3 Prozent aus, noch vor sieben Jahren waren es 1,6 Prozent.

Eine Suppe, die die Nation vereint

Das Nationalgericht Borschtsch, das mit Randen, Kartoffeln, Pilzen, Bohnen und oft mit Fleisch zubereitet wird, wird meistens warm sowie mit Sauerrahm, gekochten Eiern und Brot gegessen.

Techno-Boom in Kiew

Seit der Maidan-Revolution 2014 hat sich die ukrainischen Hauptstadt zu einem Zentrum der Technomusik-Szene Europas entwickelt. Ein grosser Teil der ukrainischen Jugend bekräftigte seine proeuropäische Einstellung mit politischen Techno-Veranstaltungen, zahlreiche Clubs schossen aus dem Boden.

Der «Ukraine-Erklärer»

Der Autor, der mit Hilfe eines Pinguins die postsowjetische Gesellschaft kritisierte: Andrej Kurkow (60), geboren in Russland, aufgewachsen in der Ukraine. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er gilt als «Ukraine-Erklärer», der den Konflikt und das Verhältnis zwischen Europa und Russland scharf und humorvoll beleuchtet.

Das Kalush Orchestra

Ukrainische Flöten, typisch slawischer weisser Gesang und Rap: Vor drei Jahren erhielt Kalush, die Stadt in der Westukraine, ihr erstes Hip-Hop-Orchester. Die Band wird die Ukraine 2022 am Eurovision Song Contest vertreten und gilt bereits jetzt als Favorit bei den Wettbüros.

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