Als Russlands Präsident Wladimir Putin (69) Ende Februar seinen Ukraine-Feldzug begann, hätte er wohl nicht damit gerechnet, dass das Nachbarland auch Wochen später noch nicht besiegt ist. Putins Plan, die Ukraine in einem Blitzkrieg zu erobern, ging nicht auf. Unerfahrene und unmotivierte Soldaten, Panzer, die im Schlamm feststecken, und der massive internationale Druck machen dem Kremlchef einen Strich durch die Rechnung.
«Die Russen haben sich sehr, sehr verrechnet», sagt der Vier-Sterne-General und ehemalige CIA-Chef David Petraeus (69) der «Weltwoche». Die Fähigkeiten der ukrainischen Streitkräfte und der Widerstand in der Bevölkerung seien von den Russen auf dramatische Art unterschätzt worden.
Petraeus muss es wissen: Er ist einer der erfahrensten Kriegsstrategen und kommandierte US-Truppen im Irak und in Afghanistan. Für ihn ist klar, wo bei den Russen der Schuh drückt. «Die Planung der Kampagne offenbart das Fehlen einer ausreichenden logistischen Struktur in den russischen Streitkräften.»
Dabei spielt insbesondere die Eisenbahn eine grosse Rolle. Denn diese sei für das russische Militär von immens grosser Bedeutung. «Die Eisenbahn kann die Soldaten auf beeindruckende Weise durch ein Land mit 11 Zeitzonen bewegen», so Petraeus.
Katastrophale Zustände lassen Soldaten desertieren
Sobald die Truppen aber das Schienennetz verliessen, gebe es für sie keine ausreichende Infrastruktur zum Auftanken und Aufrüsten oder zur Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern. Petraeus erstaunt es deshalb nicht, dass den russischen Fahrzeugen der Treibstoff ausgeht und sie ihre Munition verbrauchen.
Kein Wunder, sind erste Soldaten bereits desertiert. «Ich denke, dass sich der effektive Zustand der Truppenmoral erst in den kommenden Wochen zeigen wird, wenn sie in harte Stadtkämpfe geraten.» Denn solche Kämpfe sind nicht nur körperlich, sondern auch psychisch extrem aufreibend.
Auch in der Luft haben die Russen bislang keine totale Kontrolle. Petraeus sagt: «Die Russen haben die Effektivität der ukrainischen Luftwaffe und der Luftabwehr nicht richtig eingeschätzt. Die Tatsache, dass die Russen nicht in der Lage waren, die Luftüberlegenheit zu erlangen, ist sehr aufschlussreich.» Das sei erstaunlich, wenn man bedenke, wie viel Geld Putin über die Jahre in sein Militär investiert habe.
Doch mit Geld allein gewinnt man keine Kriege. Vieles hängt auch von der Vorbereitung ab. Petraeus ist überzeugt, dass diese bei den Russen zu kurz gekommen sei. «Es ist offensichtlich, dass die Russen das rigorose, anspruchsvolle Konfrontationstraining, wie es professionelle westliche Armeen praktizieren, nicht absolviert haben.»
Putin könnte kurzen Prozess machen
Die Waffenlieferungen an die Ukraine aus dem Westen stimmen Petraeus positiv. «Wir werden feststellen, dass die russische Infanterie nicht ausreicht, um die panzerbrechenden Waffen unschädlich zu machen». Dennoch fürchtet er, dass Putin bei zu viel ukrainischem Widerstand kurzen Prozess machen wird und grosse Bombardierungen anordnen könnte, so wie er es bereits in Syrien gemacht hat. Einen Unterschied gebe es aber. «Jeder Ukrainer mit einem Handy kann Kriegsverbrechen dokumentieren. In Aleppo wurden die Russen nicht die ganze Zeit von Kameras beobachtet.»
Zwar seien die russischen Streitkräfte den Ukrainern zahlenmässig um ein Vielfaches überlegen, dennoch werde es für Russland nicht einfacher. «180'000 Soldaten werden bei weitem nicht ausreichen, um die gesamte Ukraine einzunehmen, geschweige denn, um sie zu kontrollieren», sagt Petraeus.
Sollte sich in der Ukraine ein Guerilla-Krieg entwickeln, werde das für Putin sehr personal- und kostenintensiv. Auch in der russischen Bevölkerung dürften spätestens dann einige ihre Stimmen erheben. Denn: Die Witwen und Mütter der gefallenen Soldaten werden eine Antwort verlangen. Gemäss Petraeus ist die Opferzahl bereits jetzt aussergewöhnlich hoch. »Es könnte sein, dass die Russen in den ersten Wochen Krieg mehr Soldaten verlieren, als wir in zwanzig Jahren im Irak verloren haben.» (ced)