Haben Sie schon gemerkt, dass sich eine neue Begrifflichkeit in unseren Alltag geschlichen hat? Die Wortkombination «Life Coaching», also «Lebensberatung». Ein Blick in Google Trends zeigt: Der Begriff wird hierzulande 2008 zum ersten Mal so richtig gegoogelt, seit dem Juni 2018 wird er immer stärker gesucht. Weshalb das so ist und was das über unsere Gesellschaft aussagt, hierzu mehr später. Zunächst mal eine verhalten gute Nachricht: Falls Sie in Lebensfragen Hilfe brauchen – an Angeboten mangelt es heutzutage nicht.
Die Crux dabei ist lediglich: Nebst professionellen Angeboten mit eidgenössisch zertifiziertem Abschluss finden sich viele dubiose Ausbildungs- und Kursangebote bis hin zur gefährlichen Schlangenfängerei, sagt Adrian Hässig, Präsident der Swiss Coaching Association: «Die Anzahl an unseriösen Angeboten und auch unseriösen Ausbildungen in den unterschiedlichsten Beratungsbereichen ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Der Begriff Life-Coach ist nicht geschützt, jeder kann sich Life-Coach nennen.» Neben seriösen Ausbildungen, wie zum Beispiel jene mit dem Abschluss «Eidgenössischer Fachausweis betrieblicher Mentor», der vom Berufsverband SCA mitgetragen werde, gebe es zahlreiche Angebote, «die nicht viel wert sind».
Was ist eigentlich aus dem guten alten Zuhören und Umarmen geworden?
Und noch ein – nicht nur positiver – Trend macht sich zumindest im subjektiven Empfinden bemerkbar: vordergründig gut gemeinte «Hilfsangebote» von Freunden. Zur Veranschaulichung krame ich gern ein Beispiel aus eigener Erfahrung hervor und plaudere etwas aus dem persönlichen Nähkästchen: Vor über einer Dekade, als Familiengründung noch in weiter Ferne schien und ich durchaus ein paar hässliche Frösche küsste, litt ich unter einer besonders schrecklichen Trennung. Statt nun einfach zuzuhören und mich in den Arm zu nehmen, geschah im weiblichen Teil meines Freundeskreises Folgendes: Eine bis anhin eher rational wirkende Freundin zückt angesichts meines Elends ein Buch des selbst ernannten indischen Gurus Osho, auch unter dem Namen Bhagwan bekannt. Sie erinnern sich: der unsägliche Typ, der ab den 1970er-Jahren rot gewandete Anhänger um sich scharte, die alle gratis arbeiteten und ihm zu einer Flotte an Luxuslimousinen verhalfen. «Da stehen all deine Antworten drin», raunt die Freundin konspirativ, als würde sie mir Myrrhe oder Weihrauch reichen. Was sagt man da? «Äh, danke»?
Eine andere drückt mir ein Visitenkärtchen in die Hand, um meinen Liebeskummer mittels einer «Familienaufstellung» aufzulösen – ein wissenschaftlich nicht anerkanntes «therapeutisches» Verfahren, in dem man vergangene «Verstrickungen» und Konflikte sichtbar macht, um diese dann lösen zu können und «Heilung» zu finden.
Eine dritte Person empfiehlt mir, mich in einem Wochenendseminar mit meinem «Schmerzkörper» auseinanderzusetzen und schreibt Namen von Anbietern auf einen Zettel. Fehlte nur noch eine, die mir ein Kristallheilungsseminar oder eine Klangschalen-Urschrei-Therapie empfohlen hätte.
Jede Therapie, die man sich vorstellen kann, scheint es zu geben
Was die zweifellos gut gemeinten Tipps und Empfehlungen beim Empfänger, also bei mir, aber ausgelöst haben, ist keineswegs Dankbarkeit, sondern Enttäuschung, Wut und die Frage, was eigentlich mit dem eigenen Freundeskreis los ist. Empfehlungen statt Empathie, ein Auslagern der Anteilnahme, eine wie auch immer geartete «Professionalisierung» des Tröstens – was bei mir schon vor Jahren persönliches Befremden ausgelöst hat –, gehören heute immer stärker zum Alltag, sagt Katja Rost, Professorin für Soziologie an der Universität Zürich mit Schwerpunkt Wirtschafts- und Organisationssoziologie. «Es boomt seit rund zehn Jahren der Markt für alle erdenklichen therapeutischen Angebote, sowohl für Einzelpersonen als auch für Unternehmen. Sich zurechtzufinden und seriöse Angebote von unseriösen Moden, also die Spreu vom Weizen zu trennen, ist eine Herkulesaufgabe.»
Zu diesen Angeboten gehört die Ratgeberindustrie, mit Büchern zu allen erdenklichen Themen, genauso wie Vorträge selbst ernannter Lebenshilfegurus. Menstruationsseminare, schamanistische Rituale zu allen erdenklichen Themen, Angstseminare, pferdegestützte Führungsseminare, Kristallseminare, die einen «Dimensionssprung» versprechen – nahezu alles, was man sich ausdenken kann, existiert.
Exemplarisch für das Helfer-Business ist der Job des Life-Coachs, also des Lebensberaters, und er führt uns zur alles überlagernden Frage: Wieso lassen wir uns eigentlich von Krethi und Plethi Erklärungen und Handlungsanweisungen für unser eigenes Leben geben?
Man gehört heutzutage immer nur so halb zu irgendetwas
«Die grosse Nachfrage nach solchen Beratungs-Angeboten hängt meines Erachtens mit der Individualisierung unserer Gesellschaft zusammen», sagt Rost, und erklärt: Heute seien wir immer nur Teilmitglieder von etwas. Der Kunst- und Kulturbetrieb ist ein System für sich, genauso wie die Kirche oder die Politik, das Schulwesen oder die Wissenschaft und Technik, die meinen Alltag bestimmt, oder die Ämter, auf denen ich mich melden muss. Alle diese Bereiche des Lebens seien weitgehend voneinander getrennt. Das fördere das Gefühl, selbst nur ein kleines Rädchen zwischen vielen Systemen im Getriebe der Gesellschaft zu sein. Der grosse deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) hat dies «funktionale Ausdifferenzierung von Gesellschaften» genannt.
Nur schon eine, zwei Generationen vor uns war die Welt tatsächlich eine verbindlichere: Oft wurde man, was der Vater bereits war. Ein Handwerk führte man ein Leben lang aus. Oder man war zeitlebens in derselben Firma beschäftigt. Sonntags ging man in die Kirche und sah das ganze Dorf. Der Pfarrer kannte den Metzger und der wiederum den Dorfarzt und umgekehrt. In der Soziologie nennt sich dies «organische Solidarität»: Man hat sich gegenseitig gekannt und in der Not unterstützt, das Leben war vielleicht nicht unbedingt besser, aber bestimmt einfacher.
Heute sind diese Sicherheiten verschwunden: Statt Nachbarschaftshilfe gibts das Sozialamt oder die IV – und eine komplexe Bürokratie, die mit der Geburt beginnt und deren Formulare noch nicht einmal nach dem Tod fertig ausgefüllt sind. Mit Folgen: «Das alles führt zu einem Gefühl der Unwichtigkeit und der Einsamkeit», sagt Rost, «man bewegt sich in einem immer komplexeren, starreren, von Beziehungen befreiteren Gefüge, gleichzeitig sind die Auffangnetze unserer Gesellschaft und die Verbindlichkeiten immer dünner geworden.»
Einfach gesagt: Unter anderem sind die Protestanten daran schuld, dass es immer mehr Life-Coachs gibt
Schon der grosse deutsche Soziologe Max Weber (1864–1920) hat sich in seinen Standardwerken «Religion und Gesellschaft» und «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» die Frage gestellt, was der Kapitalismus mit einer Gesellschaft anstellt. Stark vereinfacht gesagt führte seiner Meinung nach ein protestantisches Arbeitsethos zu einem verinnerlichten Selbstbild, dass nur in der Arbeit und in «sinnvoller«, also mit Geld abgegoltener Beschäftigung ein wahrer Wert liegt. Und weil Faulheit, Müssiggang und lustvolles Benutzen von Geld in diesem Weltbild «sündhaft» sind, gehört Kapital nicht nur angespart, sondern investiert und soll auch gleich «arbeiten».
Dass man in etwas «investiert», hat längst auch unsere Beziehungen erreicht: heutzutage sind sogar unsere Liebesbeziehungen und Freundschaften durchkapitalisiert: Anders sind Datingportale wie Tinder oder Parship nicht zu erklären, und der «Wert» einer Bekanntschaft lässt sich leicht an der Anzahl Follower auf Social-Media-Kanälen ablesen. «Da ist der Schritt dazu, auch ganz normale Freundschaftsdienste wie Hilfestellungen, Trost oder schlichtes Zuhören effizient und businesslike zu gestalten, nicht weit», sagt Rost.
Man muss nur richtig schwingen …
Eine weitere Ideologie führt ausserdem dazu, dass wir bereit sind, «an uns selbst zu arbeiten» – und dafür Geld auszugeben. Kernpunkt der Weltanschauung: Was du ins Universum projizierst, schickt es zu dir zurück. Wer also positiv auf seine Umwelt schaut, dem wird Positives zurückgegeben, wer Negatives ausstrahlt, dem haut das Universum gleich noch ein paar Watschen.
Ursprung dieses Denkens ist die umstrittene russlanddeutsche Okkultistin, Rassistin und Betrügerin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891). 1877 prägte sie den Begriff des «Gesetzes der Anziehung», auf den sich viele Selbsthilfebücher beziehen. Was im kleineren sozialen Umfeld tatsächlich stimmen mag – jeder umgibt sich lieber mit Fröhlichkeit als mit Leid –, wird zur perfiden Ideologie, wenn es um wirkliche Schicksalsschläge geht: Krebserkrankung? Nein, das ist nicht ein zufällig rumschwebendes Radikal, das leider ungünstig auf einen Zellkern getroffen ist, der sich nachher unregelmässig teilt. Nein, das ist ein Wink des Universums, dass du in deinem Leben vorher etwas falsch gemacht haben musst. Ergo: Selber schuld.
Im Umkehrschluss erlaubt diese Ideologie den Glauben, das ich mein Leben zum Guten wenden kann, wenn ich mich nur richtig bemühe, also: das Richtige esse, das Richtige tue, innerlich richtig schwinge und die richtige Energie aussende – und dabei kann mir vermeintlich ein Coach helfen.
Der Traum vom Aufstieg wird uns vorgegaukelt – und ist immer weniger wahrscheinlich
Soziologin Rost erklärt: «Social Media und Erfolgsgeschichten von Einzelnen erwecken den Eindruck, dass jeder es potenziell zum Milliardär schaffen kann – und man persönlich versagt hat, wenn der Erfolg nicht eintrifft. Das überfordert viele.» Dabei besagen diverse Studien, dass es heutzutage in westlichen Gesellschaften schwieriger ist als in den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren, mit Arbeit wohlhabend zu werden. «Aber die Erzählung der Möglichkeit des Erfolgs ist in unseren Köpfen stärker als die Realität.»
Alle diese Faktoren führen dazu, sagt Rost, «dass sich viele ihre Ersatzreligionen zusammenbasteln, nach denen sie glücklich zu werden hoffen. Sei das nun der Yogakurs, das Schwitzhüttenseminar, die makrobiotisch-vegane Ernährung oder der Gang zum Life-Coach. Der gibt uns vermeintlich etwas, das uns heutzutage fehlt: ein Regelwerk, jemand, der sagt: So musst du es machen, dann kommts gut». Das liege gemäss der Soziologieprofessorin auch daran, dass Kirchen heutzutage für die meisten Menschen ihre frühere soziale und spirituelle Rolle nicht mehr erfüllen: «Nur weil man aber nicht mehr an Kirchendoktrinen glaubt, verschwindet das Bedürfnis nach Religion und Spiritualität und Gemeinschaft nicht.»
Jekami, geringe Anforderungen und erst noch ein gutes Gefühl
Bleibt nur noch die Frage: Weshalb fühlen sich eigentlich Menschen ermächtigt, anderen nach einer Mini-Ausbildung Ratschläge zu geben und dafür sogar noch Geld zu kassieren? Rost sagt: «Zum einen ist wohl etwas am Klischee daran, dass tendenziell eher die Leute derartige Beratungsausbildungen anstreben, die primär sich selbst verstehen wollen.» Sie sieht aber noch einen anderen Faktor: «Da derartige Beratungen aktuell Mode sind, ist es für viele Menschen eine grosse Motivation, etwas von diesem Status abzubekommen, sodass man in ähnlich interessierten Kreisen als zeitgemäss und innovativ gilt. Life-Coach klingt ja auch cooler als etwa Verwaltungsmitarbeiter.»
In Bezug auf die Teile meines eigenen Freundeskreises, die zu meinem Befremden schon vor mehr als 15 Jahren auf diese Schiene geraten sind, gibt es also zwei Deutungsweisen: Entweder es handelt sich dabei um die eher labileren, verletzlicheren Freunde, und sie benötigen Nachsicht. Oder sie haben einfach schon früh eine grosse Sensibilität für Trends bewiesen. Mit beiden Gedanken kann man sich eigentlich anfreunden.