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Zürcher Experte warnt: «Der Entzug ist heftig»
Wie «The White Lotus» Medikamenten-Sucht verharmlost

In der dritten Staffel der beliebten US-Serie «The White Lotus» konsumiert eine der Hauptfiguren sorglos Benzodiazepine. In der Schweiz steht die Abhängigkeit von «Benzos» an dritter Stelle – nach Tabak und Alkohol. Ein Experte erklärt die Risiken.
Publiziert: 04.04.2025 um 14:24 Uhr
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Aktualisiert: 04.04.2025 um 16:02 Uhr

Darum gehts

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Jonas DreyfusService-Team

In der dritten Staffel der US-Serie «The White Lotus» – die finale Episode läuft ab 7. April auf Sky – hat sich die Figur einer Jet-Set-Lady auf Family-Wellnessreise in Thailand zum Publikumsliebling gemausert. 

Entspannung findet Victoria Ratliff (gespielt von Parker Posey) nicht bei Massagen, sondern dank ihrer Benzodiazepine, kurz: Benzos. Die Beruhigungsmittel wirft die Mutter dreier Kinder ein, wenn sie sich gerade etwas unwohl fühlt – zum Beispiel in Anbetracht anderer Gäste. Dann lallt sie ihrer Entourage die Ohren voll und verwechselt Thailand mit China. Das ist unterhaltsam, aber verharmlosend.

Die zugedröhnte Victoria Ratliff (M.) kriegt in der dritten Staffel von «The White Lotus» nur am Rand etwas mit von den Thailand-Ferien in Gesellschaft ihrer drei Kinder (r. und l. ihre zwei Jüngsten) und ihrem Ehemann.
Foto: Imago

In der Schweiz gehören Benzodiazepine nach Tabak und Alkohol zu den häufigsten Ursachen von Suchtverhalten. Die Zahl der Betroffenen wird auf 200'000 bis 400'000 geschätzt. Die Konsumierenden werden immer jünger.

«Wer Benzodiazepine einsetzt, um unangenehme Gefühle zu dämpfen, gerät schnell in eine Abhängigkeit», sagt Philip Bruggmann (54), Leiter der Zürcher Zentren für Suchtmedizin (Arud). Rund jede zehnte Person entwickelt bei längerem Gebrauch eine Suchterkrankung.

Die Medikamente wirken beruhigend, angstlösend und je nach Präparat auch stark schlaffördernd. Sie werden in der Regel bei Angststörungen oder Insomnie eingesetzt und sind verschreibungspflichtig. Mit der Zeit gewöhnt sich der Körper an den Wirkstoff. Um denselben Effekt zu erzielen, braucht es immer höhere Dosen.

Konsumierende, die eine entsprechende Toleranz entwickelt haben, vertragen oft Mengen, die für andere Menschen tödlich wären. «Wer an hohe Dosen gewöhnt ist, könnten unter Einfluss von Benzos theoretisch sogar einer einfachen Bürotätigkeit nachgehen», sagt Bruggmann.

Alkohol kann Entzugserscheinungen dämpfen

Der Jet-Set-Lady aus «The White Lotus» kommt irgendwann ihr gesamter Vorrat abhanden. Sie steckt das relativ gut weg, trinkt einfach umso mehr Wein.

Als ihr Vorrat an Schmerzmittel auf rätselhafte Weise verschwindet, lässt sie das relativ kalt. Wie realistisch ist das aus Sicht eines Suchtexperten?
Foto: Imago

Alkohol könne Entzugserscheinungen kurzfristig dämpfen, sagt Bruggmann. Dass man einfach weitermachen kann wie bisher, hält er jedoch für unrealistisch. «Menschen, die einen Benzodiazepin-Entzug durchlebt haben, beschreiben die Symptome oft als heftiger als das, was über die Symptome eines Alkoholentzugs bekannt ist.»

Angst, innere Unruhe, Zittern, Schwitzen, Kopf- und Gliederschmerzen gehören dazu. «Im schlimmsten Fall kann es zu einem epileptischen Anfall kommen», sagt Bruggmann.

Ein Prozess, der Monate dauern kann

Noch bevor körperliche Entzugserscheinungen einsetzen, können sogenannte Rebound-Phänomene auftreten: Die Gefühle, die mit den Benzodiazepinen ursprünglich unterdrückt werden sollten, kehren plötzlich und in verstärkter Form zurück.

Spezialist für die körperlichen Folgen von Sucht

Philip Bruggmann (54) ist Co-Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin Arud. Es gehört zu den führenden suchtmedizinischen Institutionen der Schweiz und beschäftigt beim Hauptbahnhof Zürich rund 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bruggmann hat sich als Facharzt für Allgemeine Innere Medizin auf die körperlichen Folgen von Sucht und deren Behandlung spezialisiert. Er ist zudem Präsident von Hepatitis Schweiz und Mitglied des Forscherteams des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich.

Philip Bruggmann (54) ist Co-Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin Arud. Es gehört zu den führenden suchtmedizinischen Institutionen der Schweiz und beschäftigt beim Hauptbahnhof Zürich rund 130 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Bruggmann hat sich als Facharzt für Allgemeine Innere Medizin auf die körperlichen Folgen von Sucht und deren Behandlung spezialisiert. Er ist zudem Präsident von Hepatitis Schweiz und Mitglied des Forscherteams des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich.

Ein medizinisch und psychologisch begleiteter Entzug erfolgt in den meisten Fällen schrittweise und kann sich über Wochen oder Monate hinziehen.

Die Dosis wird langsam reduziert – in der Regel ambulant. Umso wichtiger sei es, dass das persönliche Umfeld eine gewisse Kontroll- und Unterstützungsfunktion übernehme, sagt Bruggmann.

Benzos als Schlafmittel für ältere Personen

Schon eine tiefe Dosis, die regelmässig zum Schlafen verwendet wird, kann zu einer Abhängigkeit führen. Davon sind viele ältere Menschen betroffen. «Hier versucht man, die Schlafhygiene und den natürlichen Schlafdruck der Betroffenen zu verbessern.»

Laut dem Schweizer Suchtpanorama 2025 hat sich der chronische Benzodiazepin-Konsum in der Gesamtbevölkerung stabilisiert – auch bei älteren Menschen.

Tödlicher Mischkonsum: Schauspiel-Shootingstar Angus Cloud («Euphoria») starb mit nur 25 Jahren an einer Überdosis Benzodiazepine, Fentanyl, Kokain und Methamphetamine.
Foto: AFP

Beunruhigend ist hingegen, dass das Durchschnittsalter der Süchtigen seit Jahren deutlich sinkt: Innerhalb von sieben Jahren fiel es von 47 auf 38 Jahre. Besonders viele Jüngere unter 25 kamen neu in Behandlung. Bei den 11- bis 20-Jährigen hat sich die Abgabe von Benzodiazepinen seit 2015 fast verdoppelt. Übers Internet und Kontakte komme man zudem an fast jede Substanz, sagt Bruggmann. 

«Was uns bei Jugendlichen Sorgen macht, ist der Mischkonsum.» Beeinflusst vom Deutsch-Rap oder anderen popkulturellen Strömungen werden Benzodiazepine oft einfach mal ausprobiert und mit Alkohol und anderen sedierenden Substanzen gemischt. «Wer nichts davon gewöhnt ist, riskiert eine Verlangsamung der Atmung bis hin zum Atemstillstand.»

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