«Sie werden apathisch und können kaum mehr laufen»
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Experte zu Überdosierungen:«Sie werden apathisch und können kaum mehr laufen»

Pflegekräfte zum Medikamenten-Boom in Altersheimen und -psychiatrien
«Überdosierungen gibts immer wieder»

In Pflegeheimen und Alterspsychiatrien werden Patienten regelmässig ruhiggestellt. Vier Pflegefachkräfte aus der ganzen Schweiz erzählen, wie sie wegen des akuten Personalmangels teils gezwungen waren, zu fahrlässigen Praktiken zu greifen.
Publiziert: 28.02.2023 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 28.02.2023 um 10:03 Uhr
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«Zu Überdosierungen – wie im Fall von Kurt Müller – kommt es leider immer wieder», sagt Pflegeexperte Lucien Portenier.
Foto: Thomas Meier
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Carla De-VizziRedaktorin News

Elf Tage lang wurde Kurt Müller (76) im Isolationszimmer eingesperrt und «mit Medikamenten vollgepumpt». Der absolute Horror für den Demenzkranken. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Dabei dachte seine Tochter Angela Müller (52) aus Nebikon LU, dass ihr Vater gut aufgehoben sei in der Luzerner Psychiatrie St. Urban. Statt behandelt wurde der Senior ruhiggestellt. Bis sein Körper nicht mehr konnte. Er erlitt eine Medikamenten-Überdosis. «Mein Vater sitzt seit diesem Erlebnis im Rollstuhl und muss mit einem Kran aus dem Bett gehievt werden», sagt Angela Müller zu Blick.

Die psychiatrische Klinik St. Urban will sich auf Anfrage von Blick nicht zum Fall von Kurt Müller äussern. Klar ist aber: Er ist kein Einzelfall. Dass Patienten in der Pflege ruhiggestellt werden, passiere häufig, erklärt Pflegeexperte Lucien Portenier (61).

Der Berner hat jahrelang als Pflegefachmann in Altersheimen und -psychiatrien gearbeitet und springt auch heute noch temporär ein. «Zu Überdosierungen – wie im Fall von Kurt Müller – kommt es leider immer wieder.» Vor allem bei Allgemeinpraktikern und Heimärzten sei es zu einer starken Zunahme bei der Verabreichung von Antipsychotika (früher Neuroleptika) und Benzodiazepine gekommen. Und: Das Pflegepersonal müsse die Dosen und die Reservemedikamente auch häufig ganz ausschöpfen. Der Grund: Personalmangel.

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«Die Arbeit war ethisch definitiv nicht mehr vertretbar»

Auch er selbst habe bereits Medikamente verabreicht, die er im Nachhinein als überflüssig betrachtete. «Ich bin auch schon von der Schicht nach Hause gegangen und habe mich gefragt: War das wirklich notwendig? Bedauerlicherweise war die Antwort: Nein.»

Dieses Gefühl kennen die Pflegefachfrauen Sonja S.* (49) und Christina M.* (52) nur zu gut. Bis vor wenigen Monaten haben sie in einer Klinik im Kanton St. Gallen gearbeitet. Doch die beiden haben den unwürdigen Umgang mit Patienten nicht mehr ausgehalten, weshalb sie gekündigt haben und inzwischen temporär arbeiten. All ihre Versuche, die Leitung zum Umdenken anzuregen, blieben ohne Erfolg.

«Die Arbeit war ethisch definitiv nicht mehr vertretbar», sagt Sonja S. zu Blick. Die Zustände seien unhaltbar gewesen, pflichtet ihr M. bei. «Aus Zeitgründen gab es viele Medikamentenfehler, welche teilweise auch vertuscht wurden.»

«Ich musste Leute regelrecht mit Medikamenten abschiessen»

Horrorszenarien seien an der Tagesordnung gewesen. So habe man Patienten im Rollstuhl fixiert, sie teilweise ungenügend gepflegt oder mit Medikamenten im Übermass sediert. Christina M.: «Ich musste teilweise Leute regelrecht mit Medikamenten abschiessen.» S. fügt hinzu: «Wir hatten für die Dementen schlichtweg zu wenig Zeit.» Manchen Patienten habe man einen derart starken Medikamentencocktail verabreicht, dass sie zwei Tage lang nicht mehr aufstehen konnten.

Dass dem Pflegepersonal teilweise nichts anders übrig bleibt, bestätigt auch Sandra Schmied (52) aus Bern. Die Pflegefachfrau ist temporär in Altersheimen und -psychiatrien tätig. Da das Personal an allen Ecken und Enden fehle, müsse man zu solchen Mitteln greifen. «Früher waren wir in der Frühschicht zu sechst, heute sind wir zu zweit», berichtet die Fachangestellte Gesundheit, die seit über 30 Jahren im Beruf arbeitet.

Zu wenig Personal und zu wenig Zeit

Alles zulasten der Patienten. Wegen der teils «gefährlichen und fahrlässigen Pflege» sind laut Sonja S. auch Patienten gestürzt. «Manche Demenzkranke sind wegen der Medikamente derart unruhig gewesen, dass sie gestürzt oder samt Rollstuhl umgekippt sind.»

Pflegeexperte Portenier und Pflegefachfrauen berichten übereinstimmend, dass die angegebenen Dosierungen regelmässig zu hoch sind. Deswegen dürften Medikamente aber nicht pauschal verteufelt werden. Das findet auch Pflegefachfrau Schmied. «Es gibt ganz schwierige betagte Menschen, die ohne Medikamente untragbar wären.»

Nichtsdestotrotz gibt es ein Problem in der Pflege von Demenzkranken. Zu wenig Personal und zu wenig Zeit für zu viele Patienten. Die Notlösung: Statt die Kranken zu betreuen, stellt man sie einfach ruhig – und riskiert dabei eine Überdosis.

* Namen der Redaktion bekannt

Das sagt Curaviva zu dem Fall

Der Fall Kurt Müller macht Markus Leser von Curaviva, dem Branchenverband der Dienstleister für Menschen im Alter, betroffen. «Das ist sehr traurig. Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen im Alter würdevoll betreut und behandelt werden», sagt Leser zu Blick. Ein weiterer solcher Fall sei ihm nicht bekannt. Es sei richtig, dass das Personal knapp sei. Da müsse sich was ändern. Besonders die Politik sei gefragt, um dieses Problem anzugehen. Aber einen Zusammenhang zwischen der starken Medikamentendosis und dem fehlenden Personal sieht er nicht. Und er stellt klar: «Die Mitarbeitenden in der Pflege sind nicht überfordert, aber gefordert.» Gerade bei der Demenz kann es schwerwiegende Krankheitsbilder geben, bei der die Versorgung an ihre Grenzen kommt. Daher könnten da auch stärkere Medikamente zum Einsatz kommen, um das Leid von Erkrankten zu lindern. Das habe aber nichts mit Ruhigstellen zu tun. Leser zu Blick: «Medikamente sind nicht per se schlecht, sollten aber nur so viel wie nötig eingesetzt werden. Und natürlich immer in Absprache mit den Verwandten.»

Markus Leser ist Senior Consultant bei Curaviva.
zvg

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