Auf einen Blick
«Er war unfähig, zu sprechen und verliess fluchtartig die Notaufnahme. Im Aufenthaltsraum angekommen, wurde er von einem Weinkrampf geschüttelt. So fand ihn Schwester Karin vor. An das, was danach kam, konnte sich Johannes später nur noch schemenhaft erinnern.»
Der Auszug stammt aus dem Buch «Hochfunktionale Depression. Das übersehene Leiden» von Psychiaterin und Psychotherapeutin Michelle Hildebrandt (54) und beschreibt den Zusammenbruch ihres Patienten Johannes (fiktiver Name), ein erfolgreicher Arzt. Sein Fall zeigt, wie drastisch die Folgen ignorierter Warnsignale bei einer hochfunktionalen Depression für Betroffene und ihr Umfeld sein können.
Es kann jeden treffen
Rund zehn Prozent aller Menschen hätten irgendwann in ihrem Leben eine Depression, sagt Hildebrandt im Gespräch mit Blick. Das deckt sich mit den 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die gemäss Bundesamt für Statistik – Stand 2022 – mittelschwere bis schwere Depressionssymptome aufweisen. «Auch vor einer hochfunktionalen Depression ist niemand hundertprozentig geschützt.»
Bei einer klassischen Depression sei das Leiden für andere oft sichtbar, sagt Hildebrandt. «Betroffene wirken niedergeschlagen, schaffen es manchmal nicht mehr, ihre Arbeit zu erledigen, und ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück.»
Leistung statt Auseinandersetzung mit inneren Konflikten
Hochfunktional depressive Menschen hingegen seien so stark auf Leistung fokussiert, dass sie oft nicht einmal selbst wahrnehmen, wenn etwas nicht mit ihnen stimmt. Häufig handle es sich um Personen, die überzeugt sind: «Wenn es ein Problem gibt, bin ich dafür verantwortlich, es zu lösen.»
Obwohl sie Erschöpfung spüren, kämpfen sie so hart dagegen an, dass niemand etwas bemerkt – bis die Belastung irgendwann zu gross wird. «Dann kann eine Kleinigkeit reichen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.»
Michelle Hildebrandt (54) ist Psychiaterin und Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Sozialmedizin. Sie studierte in ihrer Heimatstadt Lübeck (D) und absolvierte während des Studiums ein Praxisjahr an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel.
Danach arbeitete sie viele Jahre in der Gehirnforschung und in der klinischen Praxis – zuletzt am Zentrum für integrative Psychiatrie in Lübeck. Aktuell arbeitet sie als Medizingutachterin. 2019 erschien ihr Buch «Neurodiät», 2021 «Die Patientenfänger».
Michelle Hildebrandt (54) ist Psychiaterin und Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Sozialmedizin. Sie studierte in ihrer Heimatstadt Lübeck (D) und absolvierte während des Studiums ein Praxisjahr an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel.
Danach arbeitete sie viele Jahre in der Gehirnforschung und in der klinischen Praxis – zuletzt am Zentrum für integrative Psychiatrie in Lübeck. Aktuell arbeitet sie als Medizingutachterin. 2019 erschien ihr Buch «Neurodiät», 2021 «Die Patientenfänger».
Hildebrandt nennt ihre neuste Veröffentlichung ein Aufklärungsbuch. Sie will die Öffentlichkeit für das Thema hochfunktionale Depression sensibilisieren. Im Gegensatz zu dem, was häufig als Burnout bezeichnet wird, ist dieser Zustand gemäss Hildebrandt weitaus komplexer und zeigt eine Vielzahl von Symptomen. Wenn frühzeitig erkannt, lassen sich einige Symptome aus eigener Kraft überwinden.
Wenn du dich beispielsweise immer stärker zugunsten der Arbeit aus sozialen Kontakten zurückziehst, häufiger zu Snacks greifst oder vermehrt Alkohol konsumierst, lohnt es sich, innezuhalten und dich zu fragen: «Was kann ich Gutes für mich tun?» Kleine, bewusste Auszeiten können helfen, wie etwa regelmässige Meditation, entspanntes Musikhören auf dem Sofa oder sportliche Aktivitäten.
Alarmsignale hingegen sind laut Hildebrandt anhaltende Schlafstörungen und körperliche Beschwerden, ohne dass in ärztlichen Untersuchungen eine organische Ursache gefunden werden kann. Auch eine erhöhte Reizbarkeit und mangelnde Erholung nach dem Wochenende oder nach Ferien sollten dich aufhorchen lassen. Im Zweifelsfall solltest du dir frühzeitig professionelle Hilfe holen. Hildebrandt: «Das kann zunächst auch der Hausarzt sein.»
Die Ursache für Johannes' Zusammenbruch
Auslöser für Johannes Zusammenbruch – so erfährt man im Buch – war eine verwirrte Patientin, die ihm frech ins Gesicht schrie. Normalerweise konnte der Arzt gut mit solchen Situationen umgehen.
Dementsprechend überrascht waren seine Kollegen, dass er zusammenbrach: «In der Frühbesprechung hatten sich die Kollegen noch lebhaft über das gute Abschneiden der Klinikstaffel beim Marathon am Wochenende ausgetauscht und Johannes überschwänglich gefeiert, da er als Schlussläufer noch einige Teams überholen und so den zweiten Platz in der Teamwertung sichern konnte.»