Blick: Frau Konrad, viele Eltern sagen zu ihren Kindern: «Dir soll es besser gehen als mir.» Was halten Sie davon?
Sandra Konrad: Dass Eltern für ihre Kinder nur das Beste wollen, ist naheliegend und schön. Es kann aber auch Schuldgefühle auslösen, wenn es mir als Tochter oder Sohn eben gerade nicht besser geht als meiner Mutter oder meinem Vater. Und falls es mir viel besser geht als ihnen, ist das vielleicht auch kein angenehmes Gefühl.
In Ihrem Buch verwenden Sie in diesem Zusammenhang den Begriff Überrundungsverbote. Gemeint ist, wenn Eltern ihren erwachsenen Kindern verbieten, sie zu übertrumpfen.
Eltern tun das in den meisten Fällen unbewusst. Sie kritisieren die erwachsenen Kinder zum Beispiel in Momenten, in denen diese sich gerade besonders wohlfühlen mit sich und ihrem Leben. Manche Eltern ertragen es auch nicht, wenn ihr Nachwuchs erfolgreicher ist als sie. Ich höre von Patientinnen und Patienten oft, dass diese Art von Müttern und Väter immer wieder vergessen, was oder für welches Unternehmen ihr Kind arbeitet.
Auch wenn es nicht bewusst passiert: Warum tun Eltern das?
Weil sie Angst haben, dass ihre Kinder sich durch den Erfolg von ihnen entfernen. Und weil sie ein sehr geringes Selbstwertgefühl haben.
Sandra Konrad (48) ist Psychologin mit eigener Praxis in Hamburg. Ihr Spezialgebiet ist die transgenerationale Übertragung. Bereits für ihre Doktorarbeit untersuchte sie anhand von jüdischen Frauen, wie Erleben und Wiedererleben erlittener Traumata an die folgende Generation weitergegeben werden. 2013 veröffentlichte Konrad ihr erstes Sachbuch «Das bleibt in der Familie». Es handelt vom unbewussten Weltbild der Eltern, das an die Kinder übertragen wird. In ihrem neusten Buch «Nicht ohne meine Eltern» (Piper) beschäftigt sich die Bestsellerautorin mit der gesunden Ablösung von den Eltern.
Sandra Konrad (48) ist Psychologin mit eigener Praxis in Hamburg. Ihr Spezialgebiet ist die transgenerationale Übertragung. Bereits für ihre Doktorarbeit untersuchte sie anhand von jüdischen Frauen, wie Erleben und Wiedererleben erlittener Traumata an die folgende Generation weitergegeben werden. 2013 veröffentlichte Konrad ihr erstes Sachbuch «Das bleibt in der Familie». Es handelt vom unbewussten Weltbild der Eltern, das an die Kinder übertragen wird. In ihrem neusten Buch «Nicht ohne meine Eltern» (Piper) beschäftigt sich die Bestsellerautorin mit der gesunden Ablösung von den Eltern.
In diesem Fall sollten sie sich doch eigentlich umso mehr freuen, wenn es dem Nachwuchs gut geht.
Ja, aber es kann auch Minderwertigkeitsgefühle auslösen, wenn mich meine Kinder überflügeln.
Was ist mit dem Vater, dem eine Fussballkarriere verwehrt wurde, und deshalb unbedingt will, dass der Sohn in dieser Sportart ein Star wird?
Das sind Eltern, die versuchen, mithilfe ihrer Kinder das eigene Selbstwertgefühl zu füttern.
Inwiefern ist das problematisch?
Alle Eltern haben Erwartungen an ihre Kinder – das ist ganz normal. Problematisch wird es, wenn daraus Aufträge werden, die ich als Tochter oder Sohn erfüllen soll. Wenn sie nicht zu mir passen oder mich überfordern, muss ich lernen, sie zurückzuweisen. Sonst laufe ich Gefahr, mich von mir selbst zu entfremden.
Wozu kann das im schlimmsten Fall führen?
Dazu, dass ich die Überrundungsverbote so verinnerliche, dass ich mich schuldig fühle, sobald sich sie übertrete. Das kann so weit führen, dass ich Jobangebote nicht nutze. Sehr tragisch ist der Fall einer depressiven Frau, die bei mir in Therapie war, und ihre Genesung regelrecht boykottierte. Es stellte sich heraus, dass sie das unbewusst aus Loyalität mit ihrer psychisch kranken Mutter tat, die nie aus ihrer Krankheit herausgefunden hatte.
Sie zitieren dazu in Ihrem Buch den Schweizer Psychiater C. G. Jung mit dem Satz: «Nichts hat einen stärkeren psychischen Einfluss auf die Kinder als das ungelebte Leben der Eltern.»
Manche Eltern projizieren verpasste Chancen und unerfüllte Wünsche auf ihre Kinder. Wenn ich als Tochter oder Sohn darunter leide, hilft es manchmal, mich zu fragen, was ich mir für meine eigenen Kinder wünschen würde. Wenn die Antwort ist, dass sie ihren eigenen Weg gehen sollen, kann ich mir selbst auch eher die Erlaubnis dazu geben. Das kann helfen, die Spirale aus Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen zu durchbrechen. Denn kein Kind auf der Welt kann seine Eltern retten.
Warum nicht?
Weil man nicht nachträglich in die Vergangenheit und vor allem in die Kindheit der Eltern eingreifen kann.
Das klingt deprimierend.
Im Gegenteil. Es ist doch erleichternd zu erkennen, dass wir nicht verantwortlich sind für das Wohl unserer Eltern. Wir können sie lieben und ihnen dankbar sein. Und wir können das grösste Geschenk, das sie uns gemacht haben – das Leben – nutzen.
Wie?
Indem wir selbst für unser Glück Verantwortung übernehmen.