Blick: Herr Bonelli, was sind Bauchgefühle?
Raphael Bonelli: Die ersten emotionalen Reflexe, die wir haben, sobald wir etwas wahrnehmen. Bauchgefühle entstehen nicht im anatomischen Bauch. Sie sind eine Metapher für das limbische System. So heisst der Teil des Gehirns, der Emotionen oder das Triebverhalten steuert. Das Bauchgefühl ist sensibler als der Verstand. Sämtliche Umwelteinflüsse werden zuerst von ihm wahrgenommen und anschliessend an den Verstand weitergegeben.
Welche Vorteile hat das?
Im Umgang mit anderen Menschen erkennen Bauchgefühle unbewusst Dinge, die der Verstand nicht wahrnimmt. Wenn ich in meiner Praxis einen neuen Patienten empfange, nehme ich sofort seinen Blick wahr oder seine Art, sich zu bewegen. Das erinnert mich vielleicht intuitiv an einen anderen Patienten, und ich ahne bereits, was den aktuellen Patienten belasten könnte. Dieser Prozess läuft über meine Bauchgefühle ab, ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Im Umgang mit anderen Leuten kann der Bauch also ein Warnsignal sein und uns zum Beispiel vor Betrügern schützen.
Können wir dem Bauch also vertrauen?
Nein, wir sollten auf ihn hören, ihm aber nicht blind folgen. Denn es gibt nicht nur das eine Bauchgefühl, sondern mehrere, die sich oft widersprechen. Bauchgefühle animieren uns dazu, in der Bar eine attraktive Person anzusprechen. Gleichzeitig lassen sie die Angst aufkommen, dabei abgelehnt zu werden. Diese Ambivalenz ist typisch für Bauchgefühle. Sie wollen unsere Lust sofort befriedigen und ignorieren allfällige negative Konsequenzen. Das bedeutet, dass sie trügen und uns auf eine falsche Fährte locken können. Denn Entscheidungen lassen sich mit dem Bauchgefühl nicht – wie mit dem Verstand – realistisch einschätzen.
Was passiert, wenn wir immer dem Bauch folgen?
Ein Mensch, der sich ohne Reflexion von seinen Bauchgefühlen leiten lässt, bewegt sich wie eine Nussschale auf dem Meer, die hin- und hergetrieben wird. Das bringt einen nicht weiter. Fälschlicherweise denken viele, dass sie frei sind, wenn sie immer ihrem Bauch folgen. Vielmehr sind diese Menschen aber ihrem Bauchgefühl ausgeliefert.
Wie sollen wir mit diesem Gefühl umgehen?
Wir müssen lernen, es zu kontrollieren. Bei einer Entscheidung sollte sich der Kopf fragen: Ist das, was der Bauch sagt, vernünftig? Entspricht es der Wahrheit? Dann sollten wir uns überlegen, ob die Bauchgefühle unseren Werten entsprechen. Erst wenn diese beiden Instanzen die Gefühle geprüft haben, können wir eine fundierte Entscheidung treffen. Wenn ich lange genug vernünftig und gemäss meiner Werte handle, kann sich das in meinem Bauchgefühl verinnerlichen. Je erfahrener ein Mensch ist, desto verlässlicher sind seine Bauchgefühle.
Welche Rolle spielen Bauchgefühle bei der Partnerwahl?
Verlieben ist reines Bauchgefühl. Am Anfang ist man überzeugt, dass die andere Person die grosse Liebe ist. Aber nach dieser ersten Phase kommen unser Verstand und unsere Werte ins Spiel. Genauso wichtig wie die körperliche Anziehung ist, dass man sich geistig austauschen kann und die gleichen Werte und Überzeugungen hat. Erst dann kann eine stabile Beziehung entstehen.
Raphael Bonelli (54) ist Neurowissenschaftler und Psychiater. Er hat seit 14 Jahren eine eigene Praxis in Wien und leitet das von ihm mitgegründete Institut für Ressourcen in Psychiatrie und Psychotherapie. «Bauchgefühle» ist sein neuester von zahlreichen Psychologie-Ratgebern. Bonelli ist verheiratet und hat fünf Kinder.
Raphael Bonelli (54) ist Neurowissenschaftler und Psychiater. Er hat seit 14 Jahren eine eigene Praxis in Wien und leitet das von ihm mitgegründete Institut für Ressourcen in Psychiatrie und Psychotherapie. «Bauchgefühle» ist sein neuester von zahlreichen Psychologie-Ratgebern. Bonelli ist verheiratet und hat fünf Kinder.