Kurz vor neun Uhr morgens sitze ich am Küchentisch. Meine Wohnung ist frisch gestaubsaugt, ich habe das Bett gemacht, die Sofadecke hübsch gefaltet – ich elende Heuchlerin. Denn gleich wird Martina Frischknecht (47) an meiner Türe klingeln, besser bekannt als Frau Ordnung. Sie bringt unordentlichen Menschen wie mir das Aufräumen bei.
Wäre Frischknecht einen Tag früher gekommen, hätte sie ihren Weg ins Wohnzimmer durch den Kleidersalat am Boden bahnen müssen. Dabei wäre sie über den Wäschekorb, Taschen und Schuhe gestolpert, hätte die vergessenen Kaffeetassen zwischen dem Krimskrams in den Regalen erspäht und sich über den grossen Sack Blumenerde mitten im Bad gewundert – vorletzte Woche habe ich die Zimmerpflanzen umgetopft.
Ich bin schon unordentlich, seit ich mich an den Tadel meiner Eltern erinnern kann. Um mich zum Aufräumen zu zwingen, lade ich häufig Leute ein, um dann am Tag vorher Vollgas zu geben. Spontan vorbeikommen darf ausser meinem Freund, meiner Familie und abgehärteten Freundinnen und Freunden selten jemand. Mich stört das Durcheinander kaum. Trotzdem schäme ich mich hin und wieder dafür.
Zeit, das zu ändern. «Dieses Gefühl, wenn ein Raum ausgemistet, neu strukturiert und organisiert ist, ist absolut befreiend», hat mir Frischknecht am Telefon versprochen. Verlockend. Kann man tatsächlich lernen, ordentlicher zu sein?
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1. Lektion: Aufräumen ist nicht gleich Ordnung
Es klingelt. Dass gleich eine Fremde in meinen Habseligkeiten herumwühlen wird, behagt mir nicht. Zwar sieht meine Zweizimmerwohnung nach der Putzaktion vorzeigbar aus, doch nur auf den ersten Blick. In den Hotspots regiert nach wie vor das Chaos: Bettwäsche, Kleider, Taschen, Brettspiele und Gerümpel sind kreuz und quer in jeden Schrank, jede Schublade gestopft.
Ich bin nervös. Was wird Frau Ordnung von mir denken? Was, wenn sie lauter peinliche Sachen entdeckt wie mein violettes Pischi mit den Eulen drauf? Den psychologischen Ratgeber? Das Dinosaurierposter? Oder schlimmer: die Kuschelrock-CD (ein Geschenk, ich schwöre!).
«Keine Sorge, wir haben schon absolut alles gesehen», beruhigt mich Frischknecht und lacht, als sie ausgerüstet mit Kleiderbügeln, Kisten zur Aufbewahrung und Abfallsäcken reinkommt. Mit dabei ist Corinna Grossenbacher (42), die Frischknecht zum zertifizierten Ordnungscoach ausbildet. Wir trinken Kaffee und essen Gipfeli. So weit, so ordentlich.
Seit 2014 ist Frischknecht selbständig, war schon bei Hunderten Kundinnen und Kunden zu Hause. Kosten pro Tag: rund 800 Franken. «Die meisten von ihnen haben nicht genug Zeit oder wissen schlicht nicht, wo sie anfangen sollen», sagt sie. Menschen mit dem Messie-Syndrom hatte sie bisher keine – ein zwanghaftes Verhalten, bei dem übermässig viele und meist wertlose Dinge angesammelt werden.
«Bist du eine Putzfrau, die aufräumt?» Die Frage hörte Frischknecht anfangs oft. Doch seien Aufräumen und Ordnung zwei ganz verschiedene Dinge: Beim Aufräumen versorgt man die Sachen, die herumliegen. Ordnung bezeichnet hingegen das Grundsystem einer Wohnung – also wie alles organisiert und eingeräumt ist. «Wenn die Ordnung nicht passt, ist es sehr schwierig, ordentlich zu bleiben.»
2. Lektion: Wir besitzen zu viel
Als Erstes ist der Kleiderschrank dran. In wenigen Minuten haben die beiden Coaches jedes Stück Stoff herausgezogen und mein Bett in einen Kleiderbasar verwandelt. «Zu viel Zeug, zu wenig Stauraum», lautet Martina Frischknechts Diagnose für mein Zuhause. Die Lösung: reduzieren.
Damit man längerfristig Ordnung halten kann, braucht jedes Objekt seinen eigenen Platz, erklärt sie mir. Sonst seien die Regale und Schränke wie bei mir schon derart voll, dass man gar nicht richtig aufräumen kann. Schliesslich besitzen wir immer mehr Dinge: Kam ein europäischer Haushalt vor 100 Jahren noch mit 180 Gegenständen aus, sind es heute im Schnitt 10'000.
Jedes Stück halten mir Frischknecht und Grossenbacher vor die Nase: behalten oder weggeben? Ich bin überrascht: Hätte ich alleine viel hin und her überlegt, reicht mir jetzt ein Blick in ihre Gesichter, um das zu entscheiden. Sobald ich zögere oder «das habe ich früher oft getragen» sage, raten sie mir, loszulassen.
Zuerst fühlt sich das ungewohnt an. Fast schon schmerzhaft. Ich habe schliesslich dafür bezahlt, und vielleicht brauche ich es ja irgendwann wieder? Doch mit dem Stapel fürs Brockenhaus wächst auch meine Freude am Loslassen.
3. Lektion: Chaoten sind gestresst und kreativ
Wir Unordentlichen haben es nicht leicht. Das zeigen die Experimente der US-Universität Michigan von 2019: Testpersonen, die in ein chaotisches Büro gebracht wurden, schätzten den Menschen darin als viel weniger gewissenhaft und weniger umgänglich ein als seinen Kollegen aus dem aufgeräumten Büro.
Und es wird noch schlimmer: Menschen in einer unaufgeräumten Wohnung sind im Schnitt unglücklicher, gestresster und fühlen sich weniger geborgen, zeigte die Studie einer kanadischen Universität. Auch lässt uns das Durcheinander häufiger zu Süssigkeiten greifen. Das gängige Vorurteil, dass Frauen ordentlicher sind als Männer, liess sich nicht bestätigen.
Ein paar Vorteile hat das Chaos immerhin. Es macht uns einfallsreicher, unkonventioneller und offener für Neues. So wurden die Testpersonen signifikant kreativer, je unordentlicher ihr Sitzungszimmer war. In einem anderen Versuch ging es um Smoothies: Die Probanden sollten sich ein als «klassisch» oder «neu» beschriebenes Getränk aus einer Getränkekarte aussuchen. Im Durcheinander bevorzugten die Testpersonen eindeutig die neuen Rezepturen.
4. Lektion: Alte Kleider erstrahlen in neuem Glanz
Wir kommen schnell voran, sind schon fast mit dem Kleiderschrank durch. Die Stimmung ist vertraut und ausgelassen. Wir lachen viel und erzählen uns Geschichten zu all den Sachen in unseren Wohnungen. Dass die beiden Frauen meine Kleider durchgehen, stört mich überhaupt nicht.
Sie tauschen sperrige Kleiderbügel gegen platzsparende schmalere, lassen meine herumflatternden Gürtel und Socken in kleinen Boxen verschwinden, optimieren Schlaf- und Wohnzimmer bis zum letzten Winkel. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie viele der Sachen ich schon lange nicht mehr benutze. Schon stehen zehn prall gefüllte Säcke zum Weggeben in meiner Küche. Grümpelschubladen ordnen sich mit Schubladentrennern kinderleicht, einzelne Sockenpaare fügen sich wie durch Zauberei wieder zusammen.
Die Aufräum-Expertinnen bringen mir bei, wie ich jedes Stück Stoff am besten falte. Meine Kleider sehen toll aus, Farben und Stoffe kommen richtig schön zur Geltung. Was eigentlich banal und völlig logisch klingt, hilft mir dabei, den Platz und das System in meiner Wohnung wieder komplett neu zu hinterfragen. Aus Erstarrung wird Dynamik.
5. Lektion: Das Tabu bröckelt
2014 war Frischknecht einer der einzigen Ordnungscoaches in der Schweiz. «Es gab praktisch keine Vorbilder», erinnert sie sich an die Zeit vor 2019, als die japanische Ausmist-Königin Marie Kondo (38) die Welt mit ihrer Netflix-Serie in einen wahren Ordnungswahn versetzte. Seither ist die Nachfrage deutlich gestiegen: Google-Suche sowie der Zentrale Firmenindex liefern heute seitenweise Schweizer Ordnungschaffende.
«Das Thema ist heute präsenter, nicht mehr so tabuisiert», sagt Frischknecht. Es gehöre zur heutigen Gesellschaft, wenig Zeit zu haben. Dass das Tabu um die Unordnung bröckelt, zeigte diesen Frühling auch ein Tiktok-Trend: Prominente wie Popstar Miley Cyrus (30) und Komikerin Chelsea Handler (48) teilten Fotos ihrer chaotischen Garderoben, überladenen Schreibtische oder zugemüllten Fussböden.
6. Lektion: Wir sind unterschiedlich ordentlich
Es gibt eine Frage, die mich schon seit längerem plagt: Bin ich vielleicht einfach faul? «Nein», beruhigt mich der Neurowissenschaftler Henning Beck (39). Er doktorierte am Graduate Training Centre für Neurowissenschaften in Tübingen in Deutschland und erklärt mir, dass alle Menschen ein unterschiedliches Ordnungsempfinden haben.
«In unserer Art des Denkens sind wir alle daran interessiert, eine Struktur in unser Leben zu bringen», sagt Beck. Doch wie stark sich diese Struktur unterscheiden kann, wissen alle, die schon einmal über den WG-Putzplan geflucht haben. Mit dem Ordnungssinn sei es nun mal wie bei unserem ästhetischen Empfinden oder unserem Geschmack: «Er ist komplett individuell. Wir alle folgen unserer eigenen Ordnung – und die kann für andere schwer nachvollziehbar sein.»
Neben dem Umfeld, der Erziehung und genetischen Faktoren spiele vor allem auch unsere Kultur eine grosse Rolle. «Im deutschsprachigen Raum hat die Ordnung einen hohen Stellenwert.» Beck vermutet: «Die meisten Menschen würden hier wohl etwas unordentlicher leben, wäre die gesellschaftliche Erwartungshaltung weniger strikt.»
Das Resultat: Sogar Papa ist sprachlos
Vier Stunden später ist meine Wohnung kaum wiederzuerkennen, leicht und luftig. Was sich vorher türmte, ist in den Schränken verschwunden, sogar die störrischen Bettlaken haben sich brav falten lassen. Seit langem verspüre ich wieder einmal Lust, weiter aufzuräumen. Meine Wohnung aus anderen Augen zu betrachten, hat mir gutgetan.
Nachdem ich mich bei den beiden Aufräumprofis bedankt habe, verschicke ich voller Stolz Fotos meiner neuen Ordnung. «Ich bin sprachlos», schreibt mein Vater. Eine Freundin fragt, ob sie einen Anschlussartikel darüber schreiben darf, wie lange das anhält. Zur allgemeinen Überraschung bleibt die Struktur bestehen – auch noch einen Monat später. Die Wäsche liegt schön gefaltet im Kleiderschrank, der Boden ist frei. Weil alles seinen Platz hat.
Dafür blockiert der Drucker seit einem Monat das Sofa, weil ich noch keine neuen Patronen gekauft habe. Auch Badezimmer und Keller blieben unberührt. Man muss ja nicht gleich übertreiben. Denn ich weiss jetzt: Wenn man will, kann man Ordnung lernen. Und sogar Ausmist-Spiesserin Marie Kondo gab letztens in einem Interview zu, dass sie unterdessen gar nicht mehr so ordentlich ist. Sie verbringt ihre Zeit lieber mit ihren Kindern.